Die Weisheit der UMKEHR

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Der Kurs steht fest, das Ziel ist vor Augen, die Route fixiert - und dann wird alles anders. Von der perfekten Wende, Umkehr-Propheten und Wende-Künstlern von Shackleton bis Reinhold Messner.

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Der Kurs steht fest, das Ziel ist vor Augen, die Route fixiert - und dann wird alles anders. Von der perfekten Wende, Umkehr-Propheten und Wende-Künstlern von Shackleton bis Reinhold Messner.

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Wenn es nach den Gesetzlichkeiten der physikalischen Wirklichkeit in ihrer erfahrbaren Form geht, nennen wir sie einfach "Welt", dann leben wir in einer langen Linie der Unumkehrbarkeit. Die Geschichte und die Zivilisationen hinterlassen ihre Spuren, es gibt Fortschritte und Zerstörungen. Das Feuer, die Axt, das Rad, das Haus, den Ackerbau, die Viehzucht (...) die Atombombe. Es gibt natürlich auch kleinere Räder, sehr viel kleinere Meilensteine oder -kieselchen, etwa Grasskifahren, grüne Präsidenten, die FPÖ oder Werner Faymann. Aber so ungefähr verhält es sich. Das ist das Gesetz der wachsenden Entropie. Es wird alles ein wenig irreversibler mit jedem Moment, im Universum und im Alpenland. Und gleichzeitig scheint die Sehnsucht nach der Wende immer größer zu werden. Nach einer Rücknahme, die eine fehlerhafte Entwicklung zurückdrehen kann. In der Physik und im echten Leben nennt man das eine Umkehr - die Energie wendet sich praktisch wieder Richtung Ausgangspunkt und geht von dort wieder aus, sie entwertet sich nicht, wird zu einem Perpetuum Mobile - unendlich, aber lebendig. Oder anders gesagt: Bei null Unumkehrbarkeit gibt es eine Kreisbewegung. Das ist Umdrehen - oder in den Worten der FURCHE, die Wende und kein Ende.

Nehmen wir als Beispiel den "König der Löwen" - einen der erfolgreichsten Disney-Trickfilme überhaupt. Da wird der kleine Simba auf eine Reise der unumkehrbaren Eroberung des Königsthrons geschickt - und zwar vom Schicksal in Person eines weisen Affen und in Begleitung eines Warzenschweins mit Namen Pumba. Aber gleichzeitig mit der Reise zum ewigen Ruhm dröhnt uns Elton John die Ohren voll mit der Rückkehr des ewig Gleichen: Der Kreislauf des Lebens, the Circle of Life. Wir erbauen uns also an der Spannung des unumkehrbaren Schicksals, sehnen uns aber im selben Augenblick nach dem ewig Gleichen, das uns Harmonie verspricht in dem scheinbar wachsenden Chaos.

Gleichzeitig nimmt die Unumkehrbarkeit aber auch jede Dynamik. Die Welt verhält sich dann nicht wie der ideale Gummiball in der Physik, der genau auf Fallhöhe zurückspringt, sondern wie Plastelin oder ein Kuhfladen: Platsch. Die Unumkehrbarkeit klebt am Boden und man könnte fast meinen, der Volksmund hat alles immer schon besser gewusst, als er meinte: "Was liegt, das pickt".

Und doch gibt es diese Umkehr, die Wende in ihrer eigentlichen Bedeutung. Es gibt sie in der Geschichte und ganz real, existenziell. Wir haben dazu nicht die negativen Beispiele herausgesucht - denn da würden wir ja im Ewiggestrigen landen - sondern in weisen Analysen, harten Entscheidungen und kraftspendenden Rückbesinnungen. Nehmen wir eine Geschichte, die noch eindrucksvoller ist als die des strebsamen Simba. Nein, sagen wir es anders. Beginnen wir mit einem Gesicht der Wende.

Sturm, Eis und die antarktische Sonne sind über dieses Gesicht gefegt, und was nach diesem Extrem-Peeling noch übrig geblieben ist, haben Falten wie Gletscherspalten und Bartstoppeln zugedeckt. Ein Schopf, mehr Fell als Haar, wächst unter der Wollmütze hervor und anstelle von Augen schaut das Visavis in zwei endlos tiefe Abgründe, in die einzutauchen den Mut einer anderen Zeit verlangt. Einer Zeit, in der Wohl und Wehe von Nationen davon abhing, dass ihre Flagge auf einem noch unbetretenen Fleckchen Erde wehte, das Glück von Völkern sich an den Außenposten des Globus entschieden hat, egal ob im äußersten Norden oder Süden oder am höchsten Ausguck dieser Welt.

Die Kunst des Überlebens

Tom Crean: Sein Gesicht wirbt heute an den Wänden des "South Pole Inn" im Städtchen Tralee im Südwesten Irlands um Gäste. Seine Tochter komme hier regelmäßig vorbei, sagen die Stammgäste, schade, wir waren nur auf der Durchreise, hätten aber gerne gefragt, ob das stimmt, was man so liest, dass Papa Crean nach der Rückkehr vom Ende der Welt seine Töchter mit den nicht so schönen Mitbringseln seiner Südpol-Touren geschreckt hat: den schwarz gefärbten Stümpfen seiner abgefrorenen Zehen. Tochter Crean würde aber wohl geantwortet haben, dass dieser kleine Grusel nichts war im Vergleich zur Freude über die Heimkehr des Vaters.

Überlebenskünstler Tom Crean. Dreimal war er in der Goldenen Zeit der Antarktis-Forschung zu Anfang des vorigen Jahrhunderts in der Eiswüste, dreimal ist er zurückgekommen. Eine Seltenheit in dieser Zeit, bei diesem Ziel, in dieser Abenteurergeneration. Tom Crean war der stille wie kongeniale Partner von Südpol-Legende Ernest Shackleton gewesen. Der "Unsung Hero" nennt ihn ein Biograf. Ursprünglich als erste Durchquerung des antarktischen Kontinents geplant, wechselte der Fokus des Unternehmens nach dem Verlust des Schiffes im Packeis schlagartig auf das Überleben. Und letztlich brachten Shackleton und Crean die gesamte Expeditionsmannschaft wieder heil zurück. Das Scheitern am ursprünglichen Ziel wurde zum Sieg der Umkehr.

Aber wie wäre es ausgegangen, hätten bei Shackletons Taktik nicht alle mitgemacht? Was wäre gewesen, wenn sich die Mannschaft geteilt hätte, in sagen wir einmal 50.3 Prozent und 49.7 Prozent der Gemeinschaft? Mister Crean hätte es sicher nicht geschafft und auch Mister Shackleton nicht. So wie auch niemand mit halber Kraft vor und nach Wahlen eine Wende schafft - egal was er verspricht - sondern höchstens eine Vierteldrehung ins hoffnungslos Ungefähre: Barack Obama ist dafür das bekannteste Beispiel in der jüngsten Vergangenheit; einer der alles hatte, gute Pläne, die besten Absichten, die Gunst der Welt, aber eben jene der Republikaner nicht. Wie hätte wohl Tom Crean aus seiner eisigen Perspektive gesagt: "Eine Möwe kann nicht mit nur einem Flügel fliegen."

Und so gibt es jene, welche die Entscheidung des Rückzugs auf sich nehmen und alle dafür begeistern können. Daneben aber gibt es noch viel mehr, die sich schon mit dem Vorschlag für solche Umkehr sehr unbeliebt machen. Sie verheißen ja erstens die Schmach des Rückschritts in einer fortschrittlichen Welt, und auch sonst Unheil für die Zukunft und den Untergang für den Fall, dass ihre Vorschläge nicht gehört werden. Die Bibel nennt diese guten Menschen "Propheten" und wieder ist der Volksmund schlau, wenn er meint, dass die Weisen im eigenen Land nichts gelten.

Der Ruf der Propheten

So werden Amos, Hosea oder Jeremia zwar posthum verehrt, aber zu ihren Lebzeiten waren sie oft verachtet und geschmäht. Denn ihre Kritik und ihre Drohungen richten sie nicht vornehmlich an die Feinde Israels, sie wenden sich nach innen. Sie fordern Einsicht und Einkehr. Beinah wie einer, der bei einer beliebigen Wahlparty dieser Tage lauthals die Frage stellen würde, ob man denn die eigene Position nur noch durch die Angst vor dem "Anderen" wahlfähig machen kann. Wie groß wäre da wohl der Shitstorm? Das tut also niemand und so gesehen ist die Zeit der Propheten vorbei.

Weissager hingegen, die nichts Schlechtes im Eigenen erkennen erkennen, gab es zu jeder Zeit in Scharen. Sie leben von der Projektion auf das Alte, oder das Rechte und das Linke, die Oberen und die Unteren. Erfolgreich macht sie das noch lange nicht. Denn ihre Helden und "Schutzgötter", die nur dazu da sind, die Gegner auszurotten, landen auf dem Müllhaufen der Geschichte, sobald die Völker Kriege verlieren oder andere Katastrophen erleiden.

Israel aber hatte seine mahnenden Propheten und seinen mahnenden Gott. Und wo da der Schaden eintrat, wurde dieser Gott noch glaubwürdiger. Das ist vielleicht nicht gerade logisch, aber eine sehr erfolgreiche Anomalie.

Und noch besser wird das Szenario, wenn Gott die Bestrafung der Feinde verweigert. So geschieht es in der Geschichte des Propheten-Jona, den Gott nach Ninive schickt ,um der Stadt den Untergang wegen ihrer Verkommenheit vorherzusagen.

Doch der König und die Bürger besinnen sich wegen Jonas Drohungen und Gott verzeiht. Aber was tut Jona? Er sitzt beleidigt unter einem Rizinusstrauch, weil die Katastrophe nicht eintritt. Da schickt Gott einen Wurm, der den Strauch verdorren lässt. Und Jona klagt. Da fragt Gott: "Dich jammert dein Rizinus, und mich sollte eine Stadt von 120.000 nicht jammern?" Was für eine Geschichte. Man stelle sich daran knüpfend Politiker vor, die einsehen, dass die Wahrheit nicht im Wort besteht, das sie verkünden, sondern in der Realität der Menschen, denen sie es verkünden.

Der Kult des Unumkehrbaren

Aber modern ist das alles nicht. Der Umkehrende hat meist den Spott. Wieder landen wir bei Tom Crean. Mit ihm hätte es der Brite Robert Falcon Scott 1913 zwar nicht zum Südpol, sicher aber wieder zurück geschafft. Doch Expeditionsleiter Scott schickte Crean 150 Meilen vor dem Pol zurück. Die Tragödie nahm ihren Lauf und Scott und seine vier Begleiter starben. Auf das Heldenschild gehoben wurden sie trotzdem, oder gerade deswegen. Nationale "Verkultung der Dummheit" könnte man auch dazu sagen.

So ist es oft mit dem Irreversiblen und Unflexiblen. Der ehrgeizige Starrsinn schafft es in die Geschichtsbücher. Und mag der Selbstzwang zur Tat noch so sinnlos sein.

Man erinnere sich an deutsche Himalaya-Bergsteiger in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts und ihre Besteigungsversuchen des 8000ers Nanga Parbat. Mit jedem erfolglosen Ansturm stieg die Zahl der Todesopfer und mit jedem Toten wurde dieser Gipfel mehr mystifiziert. 1934 forderte die nationalsozialistische Führung den Gipfelsieg am "Deutschen Schicksalsberg", der Berg ließ sich davon nicht beeindrucken und forderte seinerseits ein Dutzend Tote. Bei einem weiteren Versuch 1937 ersticken 15 "Helden" in einer Lawine. Umdrehen, aufgeben, zurückstecken war in dieser Zeit aber nicht nur am Berg keine Option.

Von Bergpapst Reinhold Messner stammt das Credo: "Die wahre Kunst des Bergsteigens ist das Überleben." Und: "Wir Menschen lernen mehr, wenn wir scheitern, als wenn wir etwas gewinnen. Auch das Aufsteigen ist nur möglich, wenn man vorher unten war. Ein Abstieg gehört zu jedem Leben. Aber dann fange ich von Neuem an. Das ist ja das Schöne: Man kann immer wieder aufsteigen!"

Tom Crain hat sich nach seiner dritten glücklichen Rückkehr aus der Antarktis auch gesagt, da muss er nicht mehr hin. Die Einladung Shackletons zu einer vierten Expedition schlug er aus. Er eröffnete stattdessen sein Pub "The South Pole Inn" und hatte seine Freude daran, mit bitterkalten Geschichten vom Pol bei seinen Töchtern eine Gänsehaut zu zaubern. Recht hat er gehabt, Shackleton starb 1922 bei dieser Quest-Expedition. Aber darum steht ja auch Tom Crean am Ende dieser Geschichte über die Kunst des Wendens. Weil er es besser als viele andere verstanden hat, wann es Zeit ist umzudrehen, will man nicht alles verlieren, vor allem die Chance, das ferne Ziel auf ein Neues angehen zu können.

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