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Schweres Strandgut

19451960198020002020

Dr. Helmut Böhm-Raffay, 1922 in Wien geboren, schreibt unter dem Pseudonym Heinz Brandtner Lyrik und Kurzprosa. .Veröffentlichungen in österreichischen, deutschen und schweizerischen Zeitungen und Literaturzeitschriften.

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Dr. Helmut Böhm-Raffay, 1922 in Wien geboren, schreibt unter dem Pseudonym Heinz Brandtner Lyrik und Kurzprosa. .Veröffentlichungen in österreichischen, deutschen und schweizerischen Zeitungen und Literaturzeitschriften.

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Wieder zwei Stäbe landeinwärts gesteckt, dorthin wo die flüchtige Spur der letzten gewaltigen Welle gerade noch sichtbar blieb, zwei Stäbe der dritten Linie den Marken der zweiten genähert, bis auch diese dritte erstarrt, durch viele Tage nicht mehr bewegt wird, was dann? Nur um einer Veränderung willen die vierte Linie beginnen, nur damit irgend etwas sich wandelt? Was denn hat sich verändert, was ist schon anders geworden deshalb, weil diese blonde Frau daherkam und wieder davonging? Blieb nicht alles beim Alten? Ales ist heute wie damals; alles ist wie zuvor. Das Meer, die Küste, der Sand, der Mann; schwer, dumpf, ziellos.

Einmal — schon lang nachdem es ihn an dieses Ufer verschlagen, als er schon viele Tage am Strand zugebracht hatte, die Brandung verfolgend, das vergebliche Lechzen der letzten Tropfen im Sand — begann er, die äußersten Grenzen abzustecken, mit Stäben aus Holz, die er tagelang mühsam zusammentrug. Uber eine weite Strecke standen die Stäbe im Sand, er rückte sie stets landeinwärts dorthin, wo eine noch größere Welle ein Stück weiter hin-aufsohlug. Endlich, nach einem schweren Sturm, kam es vorläufig zum Stillstand, durch Tage und Wochen gab es nichts zu ändern. Da fing er von neuem an, mit einer Reihe von längeren Stäben. Doch einmal erstarrte auch diese Bewegung. Die erste Linie war auf beachtlichen Strecken erreicht, ja hier und da standen die längeren Stäbe schon weiter von der Wasserlinie entfernt als die kurzen. So begann er ein drittes Mal, wieder von vorn. Die Fischer hatten sich längst an sein kurioses Treiben gewöhnt; seine Aufzeichnungen, mit denen er ab und zu sich beschäftigte, hielten sie wohl für ein gelehrtes Schriftstück.

Aber freilich drehte sich alles nur um die blonde Frau, was er da schrieb, Gedichte, Texte, Bruchstücke einer Erzählung über den alten, an diese Küste Verbannten, alles für sie nur geschrieben, lang schon begonnen, bevor sie hierherkam. Wann kam sie wirklich? Während die zweite Linie den Strand sich hinaufsohob oder die dritte? Früher vielleicht oder später? Oder war sie niemals gekommen? Zuletzt wußte er nicht einmal darauf die Antwort und es hätte doch eine Frage im Dorf bei den Fischern genügt. Doch er fragt nicht, weiß die Auskunft im voraus, weiß alles und nichts, er ist selbst der Verbannte, mit dessen Schicksal er sich so mühvoll befaßt.

Damals, als sie das erstemal auf ihn zukam, noch ein kleiner Punkt in der Ferne, erkannte er sie sofort: sie, auf die er seit jeher gewartet, schon längst sein Besitz, das Gefäß all seiner Träume, das Ziel seiner Sehnsucht. Sie aber, die Zarte, die Feste, leidenschaftlich Zerrissene hoffte hier die Ruhe zu finden, suchte bei ihm Sicherheit, Dauer und Tiefe, spürte zugleich das Feuer im Innern dieses Vulkans, der nie ausgebrochen war und nie ausbrechen würde, wußte auch darum. *

Sehen wir uns also einen Vulkan an, fahren wir über das Meer zu der Insel, von der alle Zerstörung einst ihren Ausgang nahm, das Ende der alten, der Beginn einer neuen Kultur, die unser aller Denken geformt hat, denn vielleicht hätte Homer niemals...

Nacht auf dem Schiff. Wir wissen alles über die Sterne, die da aufgespießt sind, an der schwarzen Kugel befestigt, wir erzählen von den bekannten: den Zwillingen und den Plejaden und von den unbekannten: der Luftpumpe (Antlia) und dem Sohiffskompaß (Pyxds), für die blonde Frau ist alles neu und geheimnisvoll, das was wir sagen und das was wir nicht sagen, die belegte Stimme und das Aufbäumen der Wellen hinter dem Bug, Losgelöste Nacht, losgemacht nicht nur vom Tag, auch vom Schiff, auch vom Wasser — freischwebend unter dem Zeltdach und doch dicht genug, um auch uns in Schwebe zu halten.

Als wir das Deck wieder betreten (wann, warum, in welcher Stimmung, wie sich bewegend ... haben wir es verlassen?) steht die Klippe am Horizont. Sie nähert sich gleichmäßig, öffnet den Krater, läßt einfahren. Der schwarze Polyp in der Mitte wird zur Rechten umschifft. Landung: Ausbotten, anlegen, drängen — widersinnige Geschäftigkeit, wer hat hier Zeit zu verlieren? Hinaus und hinauf über die endlose, srteüe, getreppte, gepflasterte Straße, immer Wieder überholt von den Eseln mit Gepäck und Touristen. Verschnaufen, zurückblicken: Wird er schon ungeduldig, der schwarze Polyp? Oben strebt alles nach Norden zum Wein, zu den Läden — wir sitzen auf der Terrasse des großen Hotels, allein, noch ist die Sonne erträglich. Mit dem Rücken an die warme Mauer gelehnt überfällt uns die leichte Müdigkeit ... die weite Nacht, der lange Aufstieg ... hören wir nun die Geschichte des schwarzen Polypen.

Ich, der große Polyp — bin der König, der schönste, der reichste, der mächtigste, die Spitze der gewaltigen Insel und ihre Basis zugleich. Ich kann nicht noch schöner, nicht mehr reicher, nicht mächtiger werden. Was mache ich also? Ich sammle all meine Kraft und richte sie auf meine Mitte, auf einen Punkt, auf einen Zeitpunkt: Ich explodiere, loh zerplatze, zerberste, zerfetze mich in Millionen von Trümmern, schleudere diese hierhin und dorthin auf Menschen und Tiere, auf Häuser und Ställe; zerschlage, zerreiße, zerknittre; zerrütte, zerpflücke, zersetze... ich brenne mit der Glut meines Innern, vergifte mit schwefligen Dämpfen, bedecke alles mit einer Asche — ich, der große Polyp.

Dann bin ich nichts mehr — bin die gähnende, unermeßliche Leere, in die das Meer aufheulend hineinstürzt, das unendliche Meer, das einzig auf der Welt mir ebenbürtig erscheint — und das ich doch zwinge noch Unheil zu tragen bis an die fernsten Küsten; auch dort noch Vernichtung — durch mich, den großen Polypen.

Nach tausenden Jahren liege ich hier in der Mitte der weiten Lagune wieder aufgetaucht, ganz zusammengeschrumpft, unheimlich, schwarz, lauernd, häßlich, anziehend.

Wollen wir noch hinüber? Herumstolpern auf dem heißen, lockeren, schwarzen Geröll? Möchtest du baden in der schwefeligen Quelle? Schaudert dir nicht? Nein, es schaudert ihr nicht, sie will sich darin versenken, ganz sich hingeben, bis alles Erlebte wiederkehrt und zusammenschlägt über uns. — Wir fahren zurück in der folgenden Nacht, schlafen traumllos. Hat uns das Ereignis aneinandergekettet oder voneinander entfernt?

Eines Tages steht der junge Mann vor uns da im Sand. Wer bist du, von wo kommst du, was führt dich hierher? Ich bin Mario, aus dem Süden, mich hat es an diesen Strand gespült — und ihr? Auch wir... auch ioh bin Strandgut, aus der Mitte, und sie aus dem Norden, bleib bei uns Mario, auch wir sind ziellos und zeitlos.

Wir haben uns geschworen, damals, nie mehr von dem Polypen zu sprechen, aber du hast es immer gewußt, du kannst ihm nicht widerstehen, er wälzt sich hin und her in deinem Innern, er hat dich wieder an diesen Strand geworfen und zieht dich doch unaufhörlich zurück an seinen klebrigen, heißen Fäden, die rne gerissen sind, wie du hofftest, einmal noch mußt du hinüber, glaubst du, um dort die Fäden zu lösen, und deshalb also wirst du Mario erzählen davon, wenn wir nebeneinander liegen im Sand, eines Nachmittags, fast am Ende dieses langen Tages,an dem du sicher warst, du würdest nie, wie stark dieser Druck auch auf dir lasten möge, sprechen davon und jetzt beschwörst du uns, noch einmal mit dir hinüber zu fahren. Du klagst ian, man hätte dich nie dorthinfüh-ren sollen. Du weist jede getroffene Vereinbarung zurück. Du berufst dich darauf, die Angelegenheit in (Ordnung bringen zu müssen (denn, (trotz aller Zerrissenheit, du kommst (aus dem Norden, von dort, wo die .„Ordnung“ herrscht). Du drohst, mit Mario allein zu fahren, morgen in (aller Früh schon. Du widersetzt dich meinem Befehl, zu bleiben.

Diese Nacht werde ioh nie verges-isen, daran glaube ich fest und damit lieh dessen ganz sicher bin, weil ich Isie großspurig „Die Nacht der Entscheidung“ benenne. Gestern abend 'noch habe ich erfolglos versucht, zu (befehlen. Morgen früh werde Ich Ibitten, auf den Knien liegen, in Verzweiflung die Hände ringen, fahr (nicht, bleib, bleibe nur ein Jahr (noch, nur einen Tag... aber es wird vergeblich sein, aussichtslos, auswegdos, zusammenschrumpfend, an (Bedeutung verlierend, an Belanglosigkeit gewinnend, bald auch jeder (Wirksamkeit entbehrend, nicht •einmal mehr einer flüchtigen Beach-itung wert neben den unendlich langen Linien der Küste, neben der Ewigkeit des Wellenschlags (Schwere, dumpfe, ziellose Wellen — (unverändert, wie eh und je.

Diese Nacht ist der Wendepunkt ihres Lebens, daran glaubt sie fest, ihre Zukunft wird sieh in diesen (Stunden entscheiden, alles liegt nun in ihrer Hand, an ihrem Entschluß. Was könnte sie hindern, zu bleiben, auszudehnen die. Rast in Sicherheit, Ruhe, Frieden und wunschlosem Glück bis ans Ende der Tage? Was könnte sie zwingen, sich wieder abzustoßen in idas unstete Auf und Ab und Hin und Her und Hierhin und Dorthin? Sie ist stark: den Trotz überwindet sie leicht und auch das Verlangen nach eigener Bestimmung der Wege. Sie ist stark genug, die harten Widerstände zu brechen, verschlossene Türen zu öffnen, die Augen und Ohren zu schließen vor dem Beginn des leisen Ziehens und Gleitens* vor dem Ziehen und (Gleiten, das gar nicht begonnen, das mie aufgehört hat, dessen weiche Wellen unaufhörlich, fast unhörbar ischilagen, unterspülen, unterwaschen, was immer an Bollwerken (besteht und in aller Zukunft erbaut twird; das Ziehen und Gleiten, das ihre Stärke von innen aushöhlen iwird, Vielleicht eine Zeitlang soll die Fassade noch stehen — nein, gib ihr gleich einen Stoß, laß sie zusammen-istürzen in sich, in einen formlosen Haufen, der zurückbleibt aim Strand. Schon im wohlbekannten Element ihrer Schwäche wird sie hinausgezogen, hinübergleiten in ihr vertrautes, unstetes Leben, zuckend und flackernd wie die Flamme des Irrlichtes, bis sie verlöscht. Auf und ab, gezogen, geglitten — unverändert, wie eh und je.

Strahlend wie das Licht dieses Morgens steht Mario neben ihr, an die Reeling gelehnt. Woher kommt dieser Glanz, diese Höhe und Weite, wo bleibt der Schmerz, wenn sich die Küste allmählich zurückzieht? Die (Brandung ist nur noch ein weißer Strich, die Hügel lösen sich auf im Dunst.

Schweres Strandgut, irgendwann von der großen Flut hoch hinauf auf den Sand gespült, verbleibt dort unbeweglich; verdorrt, verrottet, verrostet, ein kaum noch kenntliches Teilchen der Küste zuletzt.

Leichtes Strandgut, flüchtig von einer Welle nahe der Wasserlinie im Sand deponiert, von der nächsten Welle wieder entführt, Immer beweglich; verfault, vermorscht, vermodert; ausgelaugt; namenlos.

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