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Flug nach dem Westen

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AN EINEM GRAUEN, NEBELIGEN MORGEN durcheilt ein Taxi die Simmeringer Haupstraße in Wien, vorbei an Fabriksgebäuden, Steinmetzwerkstätten und den dunklen und weiten Toren des Zentralfriedhofes. Die niedrigen, meist einstöckigen Häuser von Schwechat mit den kleinen Greiß-lereien, den in die Vororte vordringenden Verkaufsfilialen der großen Wäschefirmen mit ihren einheitlichen Fassaden, die etwas gemächlich und breitspurig einherschreitenden Hausfrauen lassen ein wenig den nahen Osten ahnen, den nicht einmal die großangelegten neuen Fabriksanlagen inmitten einstiger Heide ganz vergessen lassen können. Dahinter liegt die Stadt, deren gotische Türme und barocke Kuppeln sich sanft gegen die runden Hügel und Berge des Wienerwaldes abzeichnen, deren Paläste das Leben verloren haben, für das sie einst geschaffen wurden; die Stadt, die nicht mehr so fröhlich und leichtherzig lebt, wie es ihre Musik noch immer aller Welt glauben macht, die ein festliches Gesicht nur trägt, wenn Festspiele und Festgäste ihrer Schönheit huldigen und sie von neuem aufleuchten lassen.

Zwischen ihr und der übrigen Welt steht vermittelnd das Gebäude des neuen Flughafens, dessen Weitläufigkeit, Zweckmäßigkeit und moderne Schönheit eine andere Welt verkörpern, zu der man nur durch dieses Eingangstor gelangt.

Automatisch und exakt folgen die Reisenden den Anordnungen des Personals, ohne auch nur eine Sekunde lang dem Gefühl des Abschiedsschmerzes oder der Angst vor dem bevorstehenden Flug nachhängen zu können. Den Ostwind im Rücken erklimmen sie die stählerne Leiter und verschwinden, einer nach dem anderen, im Rumpf des Flugzeuges. Dicke, hellblaue Teppiche ersticken jeden Laut, nur von der Decke tönt sanfte Musik aus unsichtbaren Lautsprechern. Indirektes Licht strömt aus zwei ovalen Öffnungen über die weißgepolsterten Sitze und die zartblau gehaltenen Wände der Boeing 700, und kühl lächelnde Stewardessen in gleich blauen Uniformen überwachen aufmerksam ihre Schützlinge. Die Maschine befindet sich auf dem Rück-flug von einer Rundreise um die Welt, und Japaner, Inder, Mexikaner, Malaien und amerikanische Soldaten von entfernten Stützpunkten erwachen für Augenblicke aus ihrem Schlummer; einige erkundigen sich gelangweilt nach dem Namen der Stadt und dem Land der momentanen Zwischenlandung.

IN 4000 METER HÖHE GLEITET der Jet-Clipper der Panamerican World Airways, „The President Special“, mit unvorstellbarer Geschwindigkeit über Berge, Ebenen und Wälder, über Flußläufe und Sümpfe, nur zweimal noch den alten Kontinent berührend, in Frankfurt und in London. Schriftliche Kommandos wie „Anschnallen“, „Nicht mehr Rauchen“, begleiten diese Zwischenlandungen oder den Start, und die jeweils sanft einsetzende Musik hilft manchem Fluggast über bange Minuten hinweg. Stolz, diesen lautlosen Anordnungen des Kapitäns unbemerkt bis London nicht Folge geleistet zu haben, meinte eine mitreisende korpulente Landsmännin mit verschmitztem Lächeln zur nur englischsprechenden Stewardeß, die dies endlich bemerkt hatte: „I hobs no nia gmacht.“

Über den britischen Inseln liegt ein Wolkenmeer, das in Berge, Täler und Ebenen gegliedert ist, die nur gegen den glatten, kreisrunden Horizont, mit Bahnen vom lichtesten Blau bis in tiefes Graublau übergehend, ruhig ausklingen. Über der Maschine weitet sich die Kuppel eines unendlich blauen Himmels, die Strahlen der Sonne brechen sich an den silbergrauen Flügeln des Flugzeuges, durchstoßen die zart-rosa gefärbten Wolkenhaufen und geben Ausschnitte aus dem Land tief unten frei. Das Wolkenmeer lichtet sich zur Gänze an der Westküste Irlands und verliert sich in den glasklar blau spiegelnden Wassern des Atlantischen Ozeans. Leichte Wolkenschleier schweben zwischen dem Flugzeug und dem Meer, und ihre Schlagschatten gleiten in Windeseile über die gekräuselten Wasser. Stundenlang geht die Fahrt der Sonne entgegen, deren Licht dem Westen zu nie abnimmt; manchmal wird ein Flugzeug sichtbar, das in der ihm zugewiesenen Bahn tief unten dahinsegelt wie ein Urwelttier, oder ein Schiff, das wie ein Spielzeug aussieht und sich schneckengleich seinen Weg im tiefblauen Ozean bahnt.

ALLMÄHLICH WERDEN DIE FARBEN intensiver, die Flügel des Flugzeuges wechseln ihre Farbe von eintönigem Hellgrau zu Blaurosa bis Violett, einzelne Ersatzteile leuchten wie Bleiweiß unter den Strahlen der Nachmittagssonne; auch das Blau des Himmels und das Rosa der Wolken wandelt sich zu sanftem Violett. Rauchgraue Flockeninseln ziehen verstreut über das stahlblaue, von Eiswasser geläuterte Meer, nehmen an Größe und Dichte zu, bis sie wieder zu einem luftigen Kontinent zusammenwachsen, dessen Oberfläche unzählige Male gefaltet und gefurcht erscheint.

Aus dem Meer aus Wolken und Wasser heben sich die tief eingeschnittenen Fjorde und schneebedeckten Täler, die kahlen, windverwehten Höhen und Gebirgskuppen Neufundlands mit spärlichen und einsamen Siedlungen inmitten unendlicher Wälder. Schwimmende Inseln aus Eis tauchen im Meer auf, und hoch über ihnen bilden sich, gleichsam als ihr ätherisches Äquivalent, dichte, rauchweiße Wolkendecken; zeitweise zeigt sich ein Flecken schneebedeckten Landes, zugefrorene Teiche und Flußläufe wechseln mit den weitgeschwungenen Bändern schmaler Überlahdstraßen. Über dem tiefwinterlichen Neuschottland segeln Wolken, die wie langgezogene Spiralen aus Glaswolle aussehen.

Land und Meer lösen sich unten ständig in vielfältigen Formen ab, das Grau der Winterlandschaft geht langsam in wärmeres Braun über, das Eisblau des nördlichen Ozeans verliert sich in sanfteren Tönen, man gleitet über Inseln, Halbinseln und Sunde zum Festland, auf dem sich immer dichter Haus an Haus, Siedlung an Siedlung, Stadt an Stadt aneinanderreihen, bis sie aufgehen in einem Meer menschlicher Wohnstätten.

EIN RIESIGES GEBIRGE MIT SCHLUCHTEN, steil gegen den abendlichen Himmel aufragenden Wänden, kühnen Gipfeln, deren Spitzen wie Nadeln in die Wolken vorstoßen, liegt zusammengeschoben auf einer langgestreckten Insel im Hudson-River. Es ist Manhattan, das europäische Siedler vor einigen hundert Jahren um wenige Dollar von den Indianern erhandelten und zur phantastischsten Stadt der Gegenwart machten. Nichts mehr ist erhalten von der ersten ärmlichen An-siedlung an der Südspitze der Insel, nur die Battery und der Battery Park sprechen noch von kriegerischen Zeiten. Gewundene unregelmäßige Straßen mit Wolkenkratzern, dazwischen klassizistische Gebäude oder niedere Häuser, Werkstätten und Fabriken, breite Zufahrtsstraßen zu den Docks und dem Hauptzollamt mit seiner schwerfälligen Fassade charakterisieren dieses Viertel, das bei Tag von pulsierendem Leben erfüllt ist. Wallstreet, das mächtigste und geschäftigste Bankzentrum der Welt, liegt am Abend öde und ausgestorben da, und während einer nächtlichen Rundfahrt schleicht sich leichtes Grauen in die verwunderte Seele. Gegen den East-River zu erstreckt sich die Bowery, wo die Armut, das Laster und das Elend New Yorks sich ein Stelldichein geben; in Chinatown wimmelt es von großen und kleinen Chinesen in den Straßen, auf den Stufen vor den Häusern und in den Läden, die Lebensmittel und andere Gebrauchsgüter des Fernen Ostens feilbieten. Die Menschen scheinen förmlich aus den Behausungen herauszuquillen. Aus den unter dem Straßenniveau liegenden Restaurants strömen Düfte exotischer Nahrung und geräucherten Tees. Golden, silbern und purpurn leuchtet es im Innern des dunklen Chinesentempels, wo grell bemalte Wächter aus Pappe das Heiligtum hüten und vielgestaltige Votive aus feinstem Reispapier oder Masche von der Andacht der Gläubigen zeugen.

BOHEMIENS JEGLICHER NATIONALITÄT beherbergt Greenwich Vil-lage an der Westseite von Downtown Manhattan. Maler, Schriftsteller, Studenten und Schauspieler haben sich hier eine Art Montmartre in New York geschaffen. In einem der avantgardistischen Theater spielt man mit Erfolg seit Jahrzehnten Bert Brechts „Dreigroschenoper“ mit deutschen Emigranten; von Telephonhäuschen aus im Stehparterre und im Hintergrund der Galerie kann man jederzeit während der Aufführung Gespräche führen. Böhmische, griechische, französische, italienische, spanische Restaurants, aber auch deutsche Bierkeller (die von den meisten Besuchern für typisch österreichisch gehalten werden) mit vergilbten Photos von berühmten Freistilringern, Bierkellnerinnen mit unzähligen Maßkrügeln und vielen anderen, längst vergessenen Zelebritäten schaffen eine internationale Atmosphäre für die weniger Begüterten der Weltstadt. Auf dem Trottoir der kleinen Seitengassen, die hier noch Namen und nicht Nummern tragen, stellen die Künstler — Maler, Bildhauer und Photographen — ihre Werke aus oder veranstalten private Auktionen. Zu den kleinen Läden muß man meist einige Stufen von der Straße hinabsteigen, um dort kunstgewerblichen Kram aus aller Herren Ländern, exotische Blusen und handgewebte Bordürenstoffe aus unterentwickelten Gebieten oder billigen Schmuck, geschmackvoll sortiert und dargeboten, zu erstehen.

PLÖTZLICH MACHT SICH EINE BEGINNENDE Ordnung im Gewirr der Straßen und Häuser bemerkbar; von Washington Square aus nimmt die Fifth Avenue ihren Anfang, schnurgerade und breit rollt sie rhythmisch über Bodenerhebungen hinweg zum oberen Ende der Insel, im Nordosten am Harlem River gelegen. In den 2250 Hausnummern der Fifth Avenue spiegelt sich das Leben der ganzen Stadt wider. Noch herrschen an ihrem unteren Ende die Hotels und die großen, oft mehr als 20 Stock hohen Appartementhäuser mit dem baldachingedeckten Eingang vor, den ein Farbiger, in prunkvoller Livree und Tellerkappe, bewacht. Doch bald bestimmen die Stadtbüros großer Firmen oder Konzerne die Front der Wolkenkratzer; ihre Schaufenster nehmen oft mehrere Stockwerke eines Gebäudes ein, und die Möbel, Dekorationsstoffe, Geschirr und andere Haushaltswaren aus allen Teilen der Welt geben einen Begriff von der Größe und den Möglichkeiten des Absatzmarktes.

An der 23. Straße ist der Punkt, wo die Insel ihre volle Breite erreicht; von hier aus laufen 13 vertikale Avenuen, von denen einige streckenweise Namen tragen, denn berühmteste — Madison und Park — zugleich die elegantesten sind, nach Nordosten bis zur 125. Straße; die horizontale Gliederung der Stadt, die einer südwestlichen Richtung entspricht, wurde in jeder zehnten Straße durch eine doppelte Breite akzentuiert. Die Fifth Avenue, welche die Insel in eine östliche und eine westliche Hälfte trennt, nimmt immer deutlicher den Charakter eines Kamins an; die Gebäudereihen an beiden Seiten der

Straße werden geschlossener, dichter und immer höher. An der Ecke der 34. Straße ragt das Empire State Building mit seinen 448 Metern und seinen 102 Stockwerken in schwindelnde Höhe. Oft hängen Wolken über der Stadt und bedecken einen Teil des Wolkenkratzers, doch seine Spitze schwebt stets luftig und frei im Äther, und an klaren Tagen kann man von dort bis 120 Kilometer weit über Land und Meer schauen.

EIN UNTERIRDISCHES PHÄNOMEN hingegen birgt die Pennsylvania Railroad Station an der Westseite der gleichen Straße. Nicht nur liegen die riesigen Kassenhallen bereits stockwerktief unter dem Straßenniveau, tiefer noch sind die Abfahrtsrampen der Züge, die durch kilometerlange Tunnels unter dem Hudson ihren Weg nach dem unendlichen Westen nehmen und erst am gegenüberliegenden Festland von New Jersey wieder ans Tageslicht gelangen.

In den nun folgenden 25 Straßen zwischen der Fünften und Siebenten Avenue haben sich die größten Kaufhäuser der Welt etabliert; hier befinden sich aber auch Fabriken, die Kleider, Hüte, Mäntel und Galanteriewaren herstellen, die in Tausenden von Kopien in jeder Größe und Farbe ein Land von 180 Millionen Einwohnern versorgen. Einkaufen und Geldausgeben scheint, außer der ausfüllenden täglichen Arbeit, welche die Kraft und die Nerven jedes einzelnen bis zum äußersten verbraucht, ein wesentliches Element der New Yorkerin zu sein. Ob sie nun ein Kleid für einige oder für Tausende von Dollar ersteht, Hüte, die zwei oder hundert Dollar kosten, Pelze um tausende oder hunderte, für jede Kategorie von Käuferinnen sind Geschäfte vorhanden, die an jedem Tag der Woche, manchmal bis 9 Uhr abends, die Tore zu einem Paradies offenhalten, das jede Frau unwiderstehlich anzieht. Es gibt nichts, was ein solches Kaufhaus in seinen sieben bis acht Stockwerken, jedes einzelne von der Größe einer kleinen Stadt, seinen Kundinnen nicht bieten könnte, die, sofern sie nicht berufstätig sind, oft einen ganzen Tag hier verbringen, ihr Mittagessen im Restaurant des Hauses einnehmen und sich von Zeit zu Zeit ermüdet in die weichen Fauteuils der „Restrooms“ fallen lassen, bevor sie wieder neuen Verlockungen nachgehen.

Hier, an der Fifth Avenue gegen den Central Park zu, haben aber auch die großen Kosmetikfirmen, wie Elisabeth Arden oder Helena Rubinstein, ihre Institute; für 25 Dollar versprechen sie bei einer ganztägigen Behandlung die völlige Wiederherstellung von Linie, Schönheit und Attraktivität.

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