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New Yorker Spaziergänge

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EINE STADT DER KRASSEN GEGENSÄTZE. Wo beginnen? Wo fortsetzen? Der fürs erste etwas ratlose Spaziergänger aus Wien stößt zunächst, unweit des Broadways, auf das Zentrum der VergnügungsetabMssements, der Theater und der Filmpaläste; in der Radio City Music Hall wird pausenlos ein dreistündiges Programm von Mittag bis Mitternacht vor einem vieltausendköpfigen Publikum aufgeführt, in atemberaubender Technik folgt auf ein hundertbeiniges Ballett ein israelischer Chor, auf kühne Zirkusakrobatik der neueste Film in Breitton. Nicht weit davon liegt das Theater, das seit mehr als acht Jahren vor stets ausverkauftem Haus das bezaubernde Musical „My Fair Lady“ mit immer noch anhaltendem Elan spielt.

Eine Stadt für sich bildet das Rocke-feller-Center zwischen der 48. und 52. Straße, mit seinen 22 Gebäuden, darunter sechs Wolkenkratzer, ein ganzes Viertel von der Fünften zur Sechsten Avenue, hier Avenue of the Americas genannt, ausfüllend, in dem 160.000 Menschen leben und arbeiten, aber sich auch vergnügen können. Radio City Music Hall ist eines der älteren Gebäude dieses Viertels, „Time and Life“ mit 48 Stockwerken verkörpert in seiner Stahl- und Glaskonstruktion den Stil unserer Jahrhunderthälfte, einen Stil, der im Gebäude der Vereinten Nationen oder in den vielen, während der vergangenen fünf Jahre errichteten Neubauten der Park Avenue am reinsten ausgeprägt ist. Berühmte Bars, Restaurants, exklusive Geschäfte europäischer Und östlicher Firmen, aber auch Weltkonzerne in Stahl, Öl und Gummi spannen von hier ihre Fäden über die ganze Erde. Können die geschmackvollen Gärten oder das Promenadencafe mit dem Prometheusbrunnen, das im Winter in einen Eislaüfplatz verwandelt wird, über die hier konzentrierte Macht hinwegtäuschen?

Ein Stück Vergangenheit birgt das Hotel Plaza am Central Park; roter Plüsch und Damast, antikisierende Möbel und eine kleine Musikkapelle, die unter der Leitung eines mitteleuropäischen Kapellmeisters Operetten- und Walzermelodien ins Ohr geigt, erinnern an die Atmosphäre einiger Ringstraßenhotels vor dem Krieg.

DER CENTRAL PARK, der hier an der 59. Straße beginnt und sich bis zur 110. Straße über mehr als drei Kilometer Länge und fast einen Kilometer Breite erstreckt, ist ein wesentlicher und nicht wegzudenkender Teil der Stadt. Hier liegen die riesigen Felsen Manhattans bloß oder nur mit spärlichem Gras bewachsen und formen romantische Ufer für kleine und größere Teiche und die Wasserreservoirs. Weder der lebhafte Autoverkehr auf den breiten, längs und quer durch den Park angelegten Einbahnstraßen noch die zahlreichen im Gras und auf den Felsen lagernden New Yorker stören die vielen Eichkätzchen von graubrauner Farbe, die graziös von Baum zu Baum oder von Hand zu Hand hüpfen. Berittene Polizei auf hochbeinigen Pferden und Kinder auf Ponys und Fiaker, die ihren Standplatz vor dem Plaza Hotel aufgeschlagen haben, lassen die Großstadt ringsum völlig vergessen.

In den vielen Mansions — den Stadthäusern der „oberen Zehntausend“ — an der Ostseite des Parks, die um die Jahrhundertwende in romanischem, gotischem, neoklassizistischem oder Renaissance-Stil errichtet wurden, haben sich heute Kunstinstitute (wie das Frick-Museum oder das Kunsthistoris,che Institut der New Yorker Universität), ausländische Konsulate und Kulturmissionen niedergelassen.

An der 82. Straße beginnt der riesige Gebäudekomplex des Metropolitan Museum of Art, das, 1872 als private Institution gegründet, sich seither zum Mittelpunkt des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens New Yorks und sogar Amerikas entwickelt hat.

Völlig neue und ungewohnte architektonische Aspekte birgt das von Frank Lloyd Wright in den Jahren zwischen 1951 und 1959 erbaute Guggenheim-Museum an der 88. Straße; es steht fast zusammenhanglos und doch nicht störend unter den anderen, weniger modernen Bauten der Fifth Avenue, als geniale und äußerst eigenwillige Konstruktion eines großen Baukünstlers.

DAS BILD DER FIFTH AVENUE ändert sich plötzlich an der Nprdost-streckc des Central Park. Graurote Ziegelbauten mit eisernen Feuerstiegen von Stockwerk zu Stockwerk treten an die Stelle der gepflegten, hellgetünchten Mansions und der Apartmenthäuser, auf der Straße liegen Abfälle, weggeworfene Zeitungen, und schwatzende Neger sitzen auf den Gehsteigen oder auf den Stufen der Häuser. Aus den düsteren Fenstern spähen viele krausköpfige, nicht besonders sauber aussehende - Kinder. Hier geht es bunt zu; zu den durchwegs grellgekleideten Frauen gesellen sich geschniegelte oder verwahrloste^TVlän-ner. Mädchen mit wippenden Reifröcken und aufgetürmtem oder für den abendlichen. Ausgang noch in Wicklern aufgerolltem Haar stehen vor den Geschäften, deren Reklametafeln — bereits auf diese Schicht von Käufern abgestimmt — bleichende Gesichtf-cremen, glättende Haarpomaden oder New-Orleans-Küchenspezialitäten anpreisen. Es ist für Weiße nicht ratsam, weiter in diesen Stadtteil von New York-Harlem vorzudringen, die Schwarzen betrachten ihn als ihr Reservat, und nur gewisse Nachtklubs öffnen bereitwillig ihre Pforten,' um Blasierte und Gelangweilte der weißen Gesellschaft' an ihren • ekstatischen Vergnügungen teilhaben zu lassen.

Die farbige Bevölkerung New Yorks nimmt rascher zu als die weiße. Neger und Portorikaner dringen immer mehr in ehemals Weißen vorbehaltene Wohngegenden vor, und an der Westseite des Central Park stehen deshalb die Häuser ganzer Straßenzüge leer; sobald eine dunkelhäutige Familie einzieht, verlassen die Weißen fluchtartig die Gegend. Mischlinge stellen ein besonderes Problem dar; nicht ^selten begegnet man einem Neger- mit. den Gesichtszügen eines Chinesen oder einem Weißen mit denen eines Negers; oder Negern mit dem klassischen Profil eines Römers oder der charmanten Stupsnase einer Westeuropäerin.

DER BROADWAY IST NEBEN DER FIFTH AVENÜF die andere Lebensader Manhattans. Als einzige unter den rechtwinkeligen Straßen und Ave-nuen nimmt nur er, vom Hauptzollamt an der Südspitze der Insel, vorbei an der City Hall — dem 1812 vollendeten Rathaus der Stadt —, bis zur 8. Straße einen schnurgeraden Verlauf. Dann wendet er sich gegen Nordwest und führt auf seinem unendlich scheinenden, langen Weg zur Nordspitze an der 207. Straße, an dem nach außen unscheinbaren schmutzigroten Ziegelbau der Metropolitan Oper vorbei, den bei Tag und Nacht von prickelndem Leben erfüllten Times Square durchquerend, zum Coliseum, dem nationalen Ausstellungspavillon, dessen Haupthalle 8000 Besucher fassen kann.

In einem bis vor kurzem wenig gefragten Viertel, westlich des Broadway, zwischen der 62. und der 66. Straße, ist das Lincoln-Centre in Windeseile im Entstehen. Neue Konzert-, Theater-, Opern- und Bildungshäuser, die einen lange gefühlten und kritisierten Mangel an repräsentativen Kulturbauterr endlich beseitigen, sollen, schießen über Nacht aus dem Boden und wachsen in die Höhe.

Nicht sehr ansehnlich/ dafür aber immer sehr geschäftig und belebt ist das Bild des Broadways. 24 Stunden stehen an seinen markanten Punkten die „Supermarkets“ offen, bieten Wäsche- und Strumpfgeschäfte in der Nähe von Nachtklubs und Bars lok-kende Ware für nächtliche Kundschaft. Ununterbrochen leuchten grelle und kitschige Reklamen an den Häuserfronten von Wolkenkratzern, einstöckigen Geschäftspavillons oder auf den Gipsfassaden der Filmpaläste der Paramöünt und Metro-Goldwyn-Meyer auf und lenken die Aufmerksamkeit von dem tosenden Lärm und dem Schmutz der Straßen ab.

An der 72. Straße, nicht weit vom Broadway, hat sich eine Wiener Konditorei namens „Eclair“ etabliert, wo sich Emigranten noch gemütlich zu einem Plauscb bei Kaffee und Kuchen niederlassen dürfen, ohne vom Personal nach Beendigung der Konsumation zum Verlassen des Lokals aufgefordert zu werden.

Hier, an der Westseite von Manhattan entlang des Broadways und des Riverside Drive hört maii viel Berlinerisch, Wienerisch oder auch Jiddisch. Sonntag vormittags stehen etwas verloren aussehende Mitteleüropäer, ganz gegen amerikanische Gewohnheit, plauschend und argumentierend in kleinen Gruppen an den Straßenecken, während die Glocken eines nahen presby-terianischen Gotteshauses die Melodie „Üb', immer Treu' und Redlichkeit“ spielen, die unbeachtet über sie hinwegtönt.

Diesen vorwiegend jüdischen Wohnvierteln folgt gegen das obere Ende des Zentralparks zu wieder eine Gegend, in der sich Neger und Portorikaner niedergelassen haben. Viele Altwarenhändler haben ihre Läden über das breite Trottoir hinaus erweitert; und die löchrigen Polstermöbel, wackeligen Stühle oder die wenig einladenden Betten finden hier neben sonstigem Kram schnell neue Besitzer.

UNEUROPÄISCH MUTET ES AN, wenn man plötzlich an der 116. Straße, angrenzend an das Negerviertel, den Zentralgebäuden der Columbia-Universität gegenübersteht. Sauber mit Ziegeln gepflasterte Wege führen zwischen gepflegten Grünflächen zu den Instituten und Bibliotheken, den „Dormitories“ (Studentenheime) und Sportanlagen. Die Burschen in Khakihosen und Pullover, die Mädchen in weißen Wollstutzen und Leinenschuhen, mit Büchern unter dem Arm, unterscheiden sich in Aussehen und Gebaren merklich von ihren Kollegen diesseits des Atlantik. Freier, ungezwungener, aber auch unbeschwerter vom Wissen, von Gegenwarts- und Zukunftssorgen eignen sie sich zielbewußt/ ein Fachwissen an, das sie — in diesem Land der immer noch unbegrenzten Möglichkeiten — in nicht allzu ferner Zukunft ohne Schwierigkeiten in bare Münze umsetzen können. 26.000 Studenten vermittelt diese im Jahre 1754 gegründete Universität (die größte der drei New Yorker Hochschulen), ein Wissen und eine Ausbildung, die in allen Teilen Amerikas geschätzt wird.

An der 125. Straße greift Harlem auch auf die Westseite der Insel über; erst nach der 140. Straße herrschen Weiße wieder im Straßenbild vor. Das spanische Viertel der Stadt präsentiert sich mit dunkelhaarigen, üppigen Schönen, braunen und lockigen Kindern, Bars und Restaurants, die sich „La Lima“ oder ,.E1 Paradiso“ nennen, und mit Kinos, die in spanischer Sprache ihre Filme und Stars anpreisen. Vorhänge aus Glasperlen ersetzen in der heißen Jahreszeit die Türen der Restaurants und der vielen kleinen Barbierläden und erhöhen den südländischen Eindruck. Inmitten dieser Umgebung haben Philanthropen eine Insel der Bildung errichtet In wuchtigem Kolonialstil wurden an der 156. Straße um einen langgestreckten, gepflasterten Hof Gebäude aufgeführt, die das „Museum of the American Indian“, die ..American Numismatic Society“, das Spanische Museum und dessen Bibliothek beherbergen.

An der 179. Straße zweigt eine der großen Ausfallstraßen New Yorks zum Festland ab. Eine der längsten Hängebrücken der Welt — nach George Washington benannt — ist hier über den mächtigen Hudson gespannt.

Noch einmal schiebt sich der Broadway durch die niedriger werdenden Häuserzeilen nach Nordosten zum Harlem River vor. Mächtige Felsen mit Schluchten, von kundigen Planern in schöne Gartenanlagen verwandelt, nehmen die Nordwestspitze der Insel ein. Die ehemaligen Festungsanlagen des Fort Tryon, von dem nur noch wenige Mauern stehen, haben einem Stück Europa Platz gemacht: von der höchsten Spitze Manhattans grüßt dei Turm der „Cloisters“, deren Quadern und Säulen, Kreuzgänge und Apsiden Stück für Stück aus der alten Heimat hierher gebracht und zu einem malerischen Gebäudekomplex zusammengefügt wurden; sie sind der stimmungsvolle Rahmen für ein Museum mittelalterlicher Kunst.

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