Gestaltung, die den Raum entwertet

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Die Gestaltung des Lebensraumes sagt Wesentliches über die Wertigkeiten seiner Bewohner aus: Gedanken eines Betrachters der Skyline von Chicago.

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Die Gestaltung des Lebensraumes sagt Wesentliches über die Wertigkeiten seiner Bewohner aus: Gedanken eines Betrachters der Skyline von Chicago.

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Chicago zum ersten Mal - das ist ein Schock. Die aneinander drängende Masse der gegen den Himmel sich türmenden Wolkenkratzer ist atemberaubend. In europäischen Städten mit ihren in Jahrhunderten gewachsenen Stadtkernen wirken einzelne Hochhäuser oft deplaziert oder gar störend.

In Chicago ist das Wolkenkratzen nur konsequent, es steht nicht im Gegensatz zu mittelalterlichen Gassen, barocken Wallanlagen oder Kirchen - es steht allein im Kontrast zur flachen Landschaft: im Osten die Fläche des Michigansees, im Westen die weite ebene Prärie. Diesen starken Kontrast hat Chicago New York voraus.

Zugleich ist er für die USA typisch, wo das Verhältnis des Menschen zum Raum von der Pionierzeit an viel geographischer war und weniger historisch: Orte und Städte sind dort zunächst einmal Koordinaten in einem Netz von Straßen, einem Schachbrett von Flächen. Die Standard-Auskunft der Eingeborenen auf die Frage, woher sie kämen, gibt dann auch wie im Schulbuch den Staat mit an: "Dallas, Texas" oder "Denver, Colorado".

Vielleicht ist das Bauen in die Höhe auch ein Versuch, einen Ort in sich selbst zu zentrieren, ihm einen eigenen Charakter zu verleihen? Wer in Chicago staunend zwischen den metallisch glänzenden Türmen wandert, versteht sofort intuitiv, was diese Gestaltungsweise zunächst zum Ausdruck bringt: den Wagemut von Pionieren, das mächtige Selbstbewusstsein einer technisierten Gesellschaft, die Motorik des Fortschritts, den "boom" der "self-made-men". Die Kraft, welche die Wolkenkratzer immer höher hinaus treibt, ist die Konkurrenz, denn jeder Konzern will seine wirtschaftliche Potenz überragend zur Schau stellen.

Menschliches Gestalten ist Kunst. Kunst versucht, ihre Zeit auszudrücken, wie auch deren Darüberhinaus, an dem die Gegenwart Grenze und Maß gewinnt. Dabei muss der Maßstab keineswegs explizit sein. Das Darüberhinaus kann die Vergangenheit sein: als bleibend gültiges Ideal, oder die formale Tradition: als Kanon, oder eine transzendente Welt: als Ikone, oder die heldenhafte (identitätsstiftende) Geschichte: als Historienbild (oder auch literarisch als Epos), oder die Zukunft: als Utopismus, oder das Unbewusste: als Surrealismus...

Was immer jenseits der ins Bild oder ins Wort zu fassenden Gegenwart liegt und ihr erst Konturen verleiht, das konstituiert Kunst als dialogisches Geschehen, zwischen Bestehendem und Anderem.

Bildnerische Gestaltung geschieht notwendigerweise im Raum (musikalische entsprechend in der Zeit). Architektur hat zunächst die Landschaft als ihren spezifischen Raum. Die ein Bauwerk umgebende Landschaft ist sein Anderes, das darüberhinaus Liegende, Vor-Liegende. Das Bauen scheint nun der charakteristische Ausdruck unserer Zeit zu sein, sagen wir grob: des 20. Jahrhunderts.

Weltweit breitet sich der bebaute Raum rasant aus, nicht nur in Megastädten mit einigen Millionen Einwohnern, sondern auch im Umland aller Großstädte und oft in Dörfern, die ihrerseits auswuchern. Auch die Wüsten wachsen, das ist wahr: Es gibt eine natürliche und eine künstliche Verwüstung. Dennoch lässt sich, ohne der Qualität der Architektur zu achten, quantitativ das Bauen als die massivste, und freilich ziemlich dauerhafte Form gegenwärtigen Gestaltens ausmachen.

Druck der Expansion Sonderbarerweise nehmen die meisten Zeitgenossen unsere Fabrik-, Büro, Wohn-, Einkaufs- und Freizeitgebäude nicht als Kunst wahr, vielmehr nur hin: als aus Notdurft der Expansion quasi natürlich hervorgegangen - eine Ausbreitung und Eroberung, die ihrerseits wie ein Schicksal hingenommen wird. Der Gestaltung virtueller "Räume" gilt heute größte Aufmerksamkeit, das fasziniert, weil es neu ist. Die alte Kunst der Landschaftsgestaltung hingegen scheint aus dem Bewusstsein zu schwinden, und damit die (Mit-)Verantwortung dafür.

Der Hintergrund dieses Phänomens ist unsere (westliche) Mobilität, denn sie ist auch eine Entwertung des Raumes: Alles wird zur "Ent-fernung", alle Orte werden technisch in die Nähe gezwungen, die Ferne und Weite als das Andere zur Nähe hat keine bewusstseinsbestimmende Kraft mehr. Es ist nur folgerichtig, dass der durch "Ent-fernung" zerteilte Raum einer "erschlossenen" Landschaft seine Gestalt verliert, nicht mehr Lebensraum ist, dessen Nähe allein vor dem Hintergrund der Weite aufleuchten könnte. Als Raum wird die erschlossene Gegend verschlossen.

Ein rascher (und notgedrungen grober) Streifzug durch die Geschichte abendländischer Landschaftsgestaltung zeigt den Unterschied zu heutigem Bauen: Typisch für die antiken Griechen ist, wie sie ihre Großbauten in die Landschaft einfügten: Wer nur einmal in dem Theater von Epidauros stand, erinnert sich an die Landschafts-"Szene". Die Tempel von Paestum oder Bassae ragen auf als harmonische Vollendung des Raumes, Wohnorte des Göttlichen. Die Römer hingegen bauten zunehmend monumental, Macht und Raumbeherrschung demonstrierend.

In mittelalterlichen Stadtbildern sind außer Schutzbauten wie Burgen und Stadtmauern im wesentlichen die Türme der Kathedralen, Klöster und Kirchen markant. Auch sie ragen wie moderne Wolkenkratzer gen Himmel - doch mit charakteristisch anderer Aussage. Freilich sind die Zwillingstürme der Münchner Frauenkirche oder der "Steffl" ebenfalls ein Ausdruck von Bürgerstolz und des Selbstbewusstseins einer Stadt, doch ihre Gestalt ist ein Fingerzeig nach oben. Eingebunden in ein Bewusstsein von Oben - göttlich - und Unten - menschlich, während dazwischen die Höhe ausgespannt ist: Ragen und Streben.

Typisch für den Barock mögen die Schlösser mit ihren Parks sein, die eine Beherrschung der Fläche manifestieren. Doch ihr Anderes, ein Stück Wildnis, ist oft mit einbezogen, als Jagdwäldchen zum Beispiel. Die barocke Beherrschung des Raumes wurde bald als Unfreiheit empfunden: Der englische Garten kam in Mode. Stadtmauer und Stadttore grenzten immer den Wohnbereich ab von seinem Anderen, gaben den Siedlungen ein erkennbares Außen, von dem sie lebten, das sie belebten, mit dem sie Stoffwechsel und Dialog pflegten.

Keine Geborgenheit Vor der tatsächlich atemberaubenden Skyline von Chicago nun drängt sich die Frage auf, was unsere modernen Gestaltungen an lebendigem Austausch, an Transzendieren hervorrufen oder aber verdrängen und unterdrücken. Lassen sie noch ein relativ eigenständiges (darum gegenständiges, ja widerständiges) Außen sein? Lassen sie den Menschen in seinem Aufstreben, das freilich seiner Natur gemäß ist und, wie uns die Renaissance lehrte, Partizipation an göttlicher Schöpferkraft, lassen sie uns noch im Streben auf der Erde verwurzelt sein? Kann eine rein künstliche "Landschaft", der selbstgemachte und beherrschte Lebensraum, der sein Jenseits bereits in sich verschlingt, noch die natürliche Geborgenheit eines Gebens und Nehmens erfahren lassen?

Kirchtürme gehörten meist der jeweiligen Ortskirche, einer Institution, deren erklärte Ziele nicht aufs Diesseits beschränkt waren. Wolkenkratzer gehören Banken, Konzernen, Öl- und Versicherungsgesellschaften - Institutionen, deren erklärtes Ziel der materielle und Machtgewinn ist. Ihre Finger sind Gesten des Weisens, nach oben - doch nicht in die Transzendenz, nicht in einen Raum der sich von sich her dem Menschen eröffnet, sondern Gesten des Selbsterschließens, des Eroberns, Symbole der Potenz: selbstreferenziell, hinweisend auf das in Werkgerechtigkeit Geschaffene, das Gemächte. Nicht umsonst sind sie für Psychoanalytiker phallische Symbole.

Wenn die so gestaltete Landschaft ein Darüberhinaus kennt, dann die unbestimmte Zukunft der Utopie, in der der Fortschritt unaufhaltsam ist. An dieser Maßlosigkeit und Grenzenlosigkeit bekommen wir inzwischen Zweifel. Utopie heißt Ortlosigkeit. Was geschieht mit einem Lebensraum ohne Orte?

Veränderte Maßstäbe Natürlich verschieben sich auch unsere Empfindungsmaßstäbe. Der amerikanische "way of life" demonstriert dies - der Mensch ist sehr anpassungsfähig. Manche Fabriksgebäude der industriellen Revolution kommen uns heute schon wieder schön (schön alt) vor und gerade in Chicago wirken die älteren Wolkenkratzer, die bezeichnenderweise oft von neo-gotischen Formelementen geprägt sind, bereits hübsch.

Fortschrittsoptimisten meinen, so würden wir in einigen Jahrzehnten nostalgisch das heimelig finden, was uns heute in seiner technischen Funktionalität, der Konsequenz seines Ausschlusses des Anderen, manchmal abstößt.

Ob Chicago ein Modell ist für eine gültige Gestaltung unserer Zeit, für eine angemessene Baukunst, oder ob manches als ein Zeichen der undialogischen Vereinsamung im Selbstgemachten, als Zeichen einer Verwüstung zu sehen ist, ist schwer zu entscheiden. Jedenfalls ist es notwendig, darüber nachzudenken. Immerhin kann, wer genau nach oben blickt, noch den Himmel sehen.

Der Autor ist Dozent für Philosophie.

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