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Rundfahrt durch fremde Kontinente

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Der Stephansdom, die Sängerknaben, das Sacher, die Spanische Hofreitschule und die Kärntnerstraße kennt jeder Tourist. Doch wer war schon auf einer Sightseeingtour in den Tiefen Simmerings oder Favoritens? Die Gemeinde Wien will diese Wissenslücke nun füllen. Wien Süd, Wien West, Wien Nord, Wien Ost heißen die neuen Bustouren, die Touristen und Wienern gleichermaßen die bauliche Gegenwart und Zukunftder Donaumetropole nahebringen sollen.

„Wien Süd” steht auf der Tafel an der Windschutzscheibe eines komfortablen Beisebusses, der - wie könnte es anders sein - vor dem Wiener Rathaus wartet. Randvoll ist er, das Publikum besteht aus interessierten Wienern und einer Japanerin. Neunzig Schilling lassen sie sich das Vergnügen kosten, die eigene Stadt besser kennenzulernen. Studenten und Senioren zahlen die Hälfte, besonders letztere Gruppe ist stark vertreten. Den Ring entlang, über Wienzeile und Längenfeldgasse, geht es zum Wienerberg. Man sieht die alte Gründerzeit, nun soll die neue folgen.

Immerhin wurden in den letzten Jahren zwischen acht- und zehntausend Wohneinheiten realisiert, das „neue Wien” wächst in Floridsdorf, Simmering, Favoriten, am Marchegger Ast, auf dem Asperner Flugfeld, eben dort, wo es die Stadt noch zuläßt: das neu bebaute Areal der Kasernen am Rennweg oder das seit Jahren ins Auge gefaßte Nordbahngelände beweisen es. „Businesspark Vienna” heißt die erste Station, es geht um Firmensitze, Betriebsniederlassungen, Arbeitsplätze und Industrie. 2,4 Milliarden Schilling kostete der trendige gläserne Turm der Architekten vom Atelier 4 die „Wiener Immobilien AG”. Der Qualitätsunterschied der Formenvielfalt dieses Gebäudes neben der schlichten Architektur des Philips-Hauses von Karl Schwantzer demonstriert die Modenverhafttheit der Zeit, was bleibt, ist die herrliche Aussicht von der Terrasse.

Alt Erlaa ragt in den Himmel, der Karl-Wrba-Hof liegt ockergelb wie eine riesige, plumpe, maurische Stadt zu Füßen von Per Albin Hansson Ost und West, unzählige Scheibenbauten aus den Siebzigern und auch das berühmt-berüchtigte Schöpfwerk zeigen sich von ihrer schönsten Seite - von oben.

Auch einige der Besucher erstarren in Ehrfurcht vor dem Anblick und spielen - wie immer auf besonders hohen Dachterrassen mit einem besonders schönen Panoramablick - das Erklärungen erfordernde Ratespiel „Und was ist das?” Auch historische Diskussionen über die Schwedenhilfe, sentimentale Erinnerungen an Per Albin Hansson und den Zweiten Weltkrieg werden wach. Und der Blick auf das „Holiday Inn” mit umgebendem Golfplatz inmitten des Arbeiterbezirks Favoriten, prominent zu Füßen des Business Centers hingestreut, sorgt gleichfalls kurz für Aufregung.

Überhaupt verleugnet der jetzige Bauzustand sehr viel an Historie: Wo sich heute das ehrgeizige Projekt der großangelegten Wienerbergbesiedlung an die sanften Hügel schmiegt, arbeiteten früher Ziegelarbeiter aus Böhmen, um Lehm für die Ziegelbrennerei Wienerberger aus dem Boden zu holen. Davon ist heute nichts zu merken: 32 Architekten, von Gustav Peichl über Otto Häuselmayer, versuchten in einem Jahrzehnt eine viergeschossige Wohnlandschaft zu schaffen.

Eine Kirche am Otto-Probst Platz, umgeben von Schule und Kindergarten, bereichert um eine Anker-Filiale und den unvermeidlichen Konsum bilden die Infrastruktur und das Zentrum für etwa 7000 Menschen. Einen Pfarrer gibt es, und Jugendliche, die man nun langsam mit ihren Dopplern im Dunkeln der Wohnidylle erwischt. Davon sagt der Führer, Herr Zunke, nichts.

Immerhin habe man bei der Besiedlung darauf geachtet, daß die soziale Mischung stimmt, um Konflikte zu vermeiden. Gustav Peichls Landvillen sind beispielsweise Eigentumswohnungen, der Rest gehört der Gemeinde oder einer Genossenschaft. Läden gibt es nur wenige, doch die älteren Damen sind von dem vielen Grün ganz hingerissen, während auf der Weiterfahrt Per Albin Hansson Ost schieres Entsetzen auslöst. Doch Herr Zunke verweist auf die dreieckigen Balkonkörper auf der Hinterseite der Gebäude („die san net so schlecht wie ihr Ruf”) und, was noch viel wesentlicher ist, auf die eigene Kindheit („es war a super Zeit”).

Auch ein anderer Businsasse schließt sich an, beide nennen die mißratene Großfeldsiedlung als Negativbeispiel. Doch auch dafür findet sich eine Befürworterin, die beherzt ihr Heim verteidigt. Also lauter glückliche Wiener in den Betonscheiben? Wozu also dann eine neue Gründerzeit?

Oberlaa und die Baustelle des „Wellness Park” wecken Sauna- und Dampfbaderinnerungen, gemütliche Ruhe kehrt ein. Die Drasche-Gründe im Industriegebiet Inzersdorf sind ein früher Versuch, Wohnen und Arbeiten zu verbinden, die leicht ermüdeten Businsassen nehmen diese Information emotionslos hin. Doch in der Traviatagasse schwappen wieder Fotos Stadt Wien

Emotionen hoch. Das radikale Leitkonzept von Raimund Abraham, die Fensterschlitze und die lichtlosen Fassaden der Atriumhäuser von Carl Pruscha lösen Befremden aus: „Mechst du in sowas wohnen?” Der Bus hetzt weiter, an belanglosen Industrieansiedlungen vorbei, die Namen einiger internationaler Konzerne fallen, da folgt schon die letzte Attraktion der Boute Süd: Der Zentralverschiebebahnhof Kledering.

Über acht Kilometer erstreckt sich diese Biesenmärklin für erwachsene Eisenbahnfans. Immer noch fasziniert blicken die meisten männlichen Teilnehmer auf die wie von Geisterhand gezogenen, selbst das Gefälle abrollenden Züge. Und das ist eine Attraktion? Dahinter erstreckt sich lethargisch der zweitgrößte Friedhof Europas und schweigt beharrlich zur neuen Gründerzeit.

Wer die Möglichkeit zu Rundfahrten und die Gunst der Stunde nutzen möchte, dem kommt die Veranstaltung,^ Tage Architektur” zugute. Außer Montag und Freitag fahren täglich um 13 Uhr 30 vom Architektur Zentrum Wien im Messepalast Busse auf fünf verschiedenen Routen los. Mit eigenen Augen können sich Interessierte das „neue Wien” ansehen. Sind die Stadtvisionen, die in Filmen, Institutionen, Ausstellungen, Vorträgen, Fotowettbewerben und Musik vermittelt werden, so wirklich wie die Wirklichkeit. (Weitere Informationen zu den Busrouten gibt es un -ter der Wiener Telefonnummer 522 31 15-21 oder 522 31 15-22)

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