Uhrturm Graz - Großstadtphänomene - © Foto: iStock / Panama7

Die geteilte Stadt

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„Über die Mur gehst nicht drüber“, hieß es einst in Graz. Viel zu trennend war der Fluss, der die Stadt in ihren reichen Osten und armen Westen teilte. Die FURCHE begab sich auf einen stadtsoziologischen Lokalaugenschein im Heute.

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„Über die Mur gehst nicht drüber“, hieß es einst in Graz. Viel zu trennend war der Fluss, der die Stadt in ihren reichen Osten und armen Westen teilte. Die FURCHE begab sich auf einen stadtsoziologischen Lokalaugenschein im Heute.

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Klein und rostend hängt ein Vorhängeschloss auf der Erzherzog-Johann-Brücke in Graz. Die Brücke ist eine von insgesamt 16, die beide Hälften der Stadt verbindet. Ein kurzer Fußmarsch von zehn Minuten Richtung Westen gibt einen ersten Einblick in die rechte Stadthälfte an der Mur. Man ist in Gries angekommen – dem fünften Grazer Stadtbezirk, der allgemein als „Problembezirk“ der steirischen Landeshauptstadt gilt. Die fünf Bezirke Lend, Gries, Eggenberg, Straßgang und Puntigam, die sich allesamt auf der rechten Murseite befinden, weisen laut Statistik 5221 Arbeitslose auf knapp 100.000 Einwohnern aus. Im Vergleich dazu haben die Stadteile am linken Murufer Andritz, Ries, St. Peter, Geidorf und Innere Stadt bei der gleichen Einwohnerzahl weniger als halb so viele Arbeitssuchende. Gries ist kein Nobelbezirk, auch seinen Bewohner ist das bewusst. Jeder Zweite sieht laut Lebenszufriedenheitsstudie der Stadt Graz seine Wohnlage schlechter im Vergleich zu anderen Stadtteilen. Vom einstigen Boom der Annenstraße, vormals
die Einkaufsstraße der Stadt, ist heute wenig über. Was hier funkelt und glitzert, ist kein Luxus, sondern es sind billige Handyhüllen in Ramschläden. Elegante Fassaden oder schicke Geschäfte, die die Umgebung schmücken, sind selten. Verrauchte Lokale, kleine Supermärkte und Handyshops sind zentral für das Bild des Bezirks. Hinter einigen Schaufenstern herrscht Leere. Ihre Scheiben tragen einen Staubfilm, der sich mit der Zeit festgesaugt hat. An den Wänden dieser und vieler anderer Bauten sind Grafittispuren sichtbar, deren künstlerisches Antlitz immer mehr verbleicht. Bunt ist der Bezirk dennoch.

Vom Motorenlärm zu Fahrradklingeln

Insgesamt haben von den 33.000 Einwohnern rund die Hälfte Migrationshintergrund. Aus über 130 verschiedenen Ländern stammen sie, die meisten von ihnen aus Bosnien, der Türkei und Rumänien. Diese multikulturelle Vielfalt zeigt sich auch in den Geschäften. Zwischen einer kleinen Bankfiliale und einem Bekleidungsshop mit arabischer Aufschrift liegt eine der vielen Dönerbuden. Neben frisch geschnittenem Gemüse und sich brutzelnd drehendem Fleisch erzählt Muhitin Kilic, der Besitzer des Ladens, über seine Zeit in Graz: „Seit 16 Jahren sind wir hier in der Annenstraße und für uns passt es ganz gut. Mehr geht halt nicht.“ Um das Lokal zu kaufen, fehlt das Geld. Der rund 30 Quadratmeter große Laden ist gemietet – Gries ist mit durchschnittlich 10,45 Euro pro Quadratmeter Graz’ günstigstes Pflaster. Aufgrund von Zerwürfnissen mit Nachbarn hat es den Türken und seinen Geschäftspartner vom Griesplatz hierhin verschlagen. Auf die zwei Hälften der Stadt angesprochen, meint Muhitin Kilic schmunzelnd: „Ich nehme diese Grenze nicht wirklich wahr, aber vielleicht liegt es daran, weil ich fast nie auf der anderen Seite bin.“ Die Annenstraße weiter geht es Richtung Lend, den vierten Bezirk. Am Ufer der Mur gelegen, bricht die Grenze auf. Moderne Cafés, die exotisch klingende Limonaden anpreisen, Fair-Trade-Shops mit hippen Fronten gestalten hier das Straßenbild. Zudem ist Lend die Heimat des Kunsthauses. Das raumschiffartige Gebäude mit der Aufschrift „friendly alien“ zieht sich das Flussufer entlang. Es ist eines der bekanntesten Wahrzeichen der Stadt und beheimatet Gemälde moderner Kunst sowie ein beliebtes Lokal. Kultur- und Kulinariksuchende kommen hier auf ihre Kosten. Lend ist der Grazer Bezirk, der in den vergangenen Jahren die vielleicht rasanteste Entwicklung genommen hat. Nachdem bereits das ehemalige Bordell „Baccara“ zum Szenelokal „Noel“ wurde, erlischt jetzt auch das Rotlicht im Laufhaus St. Pauli. Lange stiefmütterlich behandelt, lockt der Bezirk auf der rechten Seite heute junge Familien und viele Studenten an.

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