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Der lange Weg zum Wohlstand

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Ungarn gilt als ein Reformland mit besonders guten Zukunftschancen. Nur scheinen viele Ungarn nicht recht daran zu glauben.

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Ungarn gilt als ein Reformland mit besonders guten Zukunftschancen. Nur scheinen viele Ungarn nicht recht daran zu glauben.

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Die Morgensonne erhellt ein faltiges Gesicht. Die Schatten sind noch lang, die Dorfstraße fast menschenleer. Die Greisin hat den Hydranten erreicht und füllt eine Wasserkanne, um sie wieder in ihr Häuschen zurückzuschleppen.

Ein paar Häuser weiter, im Italbolt, sind die ersten Gäste eingetroffen und sitzen bei ihrem Frühstücksbier. Der Schnaps wird bald folgen. Das „Getränkegeschäft” ist ein Beisl, aber nur für Durstige, essen kann man da nicht. Die Stammgäste, meist zahnlose alte Männer, werden den ganzen Tag hier verbringen, vor sich hinstarren oder fernsehen, warten, daß die Zeit vergeht. Sie haben nichts anderes mehr zu tun. Wer hier sitzt, ist arbeitslos oder pensioniert.

Verschlafen wartet das Kisalföld, die kleine Puszta, auf den neuen Tag. Die Oktobersonne hat noch viel Kraft, und es wird den ganzen Tag schön bleiben. Im Herbst regnet es wenig, und das Land, dem man im Frühsommer noch saftig-grün die Fruchtbarkeit ansah, nun wird es trocken und gelblich. Steppe. Die letzten Felder werden abgeerntet, in der Ferne rattert ein Traktor. Sonst ist es still.

Ein Ausflug in westungarische Dörfer kann zur Zeitreise werden, zurück in vergangene Jahrzehnte, gemütlich und erholsam. Auf der Straße sieht man mehr Fahrräder als Autos, hin und wieder ein Pferdefuhrwerk, eine Binderherde. Doch was dem westlichen Besucher erstrebenswert idyllisch erscheint, davon hat die Landbevölkerung mittlerweile genug. Man sehnt sich nach westlichen Standards. Aber die lassen auf sich warten.

Eine junge Frau steht mit ihrem Kind vor dem Lebensmittelgeschäft. Ein Mercedes fährt vorbei, und der Dreijährige schreit begeistert: „Merci, Merci!” Er wird von der Mutter mit einem stolzen Lächeln bedacht: der Sohn hat früh erkannt, worauf es ankommt. Wird es die nächste Generation einmal besser haben?

Harte Sanierung

Bald wird es bergaufgehen. Ungarn ist ein aufstrebendes Reformland. Die Regierung hat hart durchgegriffen in den letzten Jahren, noch eine Legislaturperiode muß sie die Sparmaßnahmen durchziehen können, dann wird Wohlstand Einzug halten im Land ... So berichten die ausländischen Medien. Doch hier in Denesfa scheint kaum jemand daran zu glauben. „Es wird noch sehr lange dauern”, meint Anna, Hausfrau und Mutter von drei halbwüchsigen Kindern. Ihr Mann ist Hilfsarbeiter, die Familie muß mit 25.000 Forint im Monat (nicht einmal 2.000 Schilling) auskommen. Natürlich, in Ungarn bekommt man viel mehr um sein Geld - aber so viel mehr dann auch wieder nicht.

Arbeit ist billig, Material teuer. Man kann um umgerechnet 20 Schilling zum Friseur gehen, aber eine Stange Salami kostet fast so viel wie in Österreich. Wenn man sie überhaupt bekommt. Während in den Supermärkten von Sopron, Szombathely oder anderen grenznahen Städten Überfluß herrscht - man kann fast alle Westwaren kaufen und noch ungarische Spezialitäten dazu - findet man in ländlichen Gebieten im Landesinneren kaum Wurst und Käse, die einen verwöhnten österreichischen Gaumen befriedigen könnten, geschweige denn Restaurants. Die berühmte ungarische

Küche scheint nur in Kochbüchern und Reiseführern zu existieren.

Ungarns Wirtschaft beginnt zu blühen, nur die Ungarn scheinen das kaum zu spüren. Anna hält wenig von der EU, und von ausländischen Firmen, die in Ungarn investieren, verspricht sie sich auch nicht viel. „Und, was haben wir davon?” sagt ihr Blick. Wie übersetzt man „Modernisierungsverlierer”? Die drei Kinder lernen Berufe, Krankenschwester, Maler, und eine Tochter arbeitet in einer Molkerei. Aber sie verdienen noch nichts, im Gegenteil: in Ungarn muß man Lehrgeld bezahlen. „Im Sozialismus war es besser, da hat die Ausbildung nichts gekostet. Und jetzt gibt es so viele Obdachlose, im Sozialismus gab es keinen einzigen”, meint sie. Im Osten sei es aber noch viel schlimmer, sie habe eine Freundin nahe der rumänischen Grenze, die müsse sogar hungern.

Optimistischer ist der Bürgermeister des Nachbardorfs. Er arbeitet für eine deutsche Firma und hat im Sommer ein Lokal eröffnet, in dem es allabendlich munter zugeht. Der Nebenerwerbswirt glaubt an die westlichen Wirtschaftsprognosen, ist sicher, daß das Land seine Probleme allmählich bewältigen wird. Aber wer keinen Beruf gelernt hat, der wird es in Zukunft immer schwerer ha-be'n. Die Schlagwörter Flexibilität und Initiative haben Einzug gehalten im Land.

Kleine Unternehmer gibt es mittlerweile in jedem Dorf. Einige nützen die Garage oder ein (Vor-) Zimmer ihres Hauses, um einen Minisupermarkt einzurichten, in dem man von allem ein bißchen bekommt. Das Angebot ist nicht immer gleich, bei frischen Waren manchmal etwas dürftig, man kann seinen Einkaufszettel oft erst im Geschäft erstellen. In vielen von diesen Vegyesbolts (Gemischtwarenläden) kann man auch am Wochenende einkaufen. Samstag nachmittag und Sonntag vormittag - und mit etwas Glück auch außerhalb der Öffnungszeiten.

König Kunde

Vieles ist bereits in privater Hand, etwa auch Strom, Gas und Telefon. Der Kunde ist König. Will man einen neuen Stromanschluß beantragen -„Wann sollen wir kommen, in einer Stunde?” Es ist kein Zufall, daß viele westliche Firmen Ungarn als Standort gewählt haben. Es ist auch nicht allzuschwer, ausgezeichnete Handwerker zu finden, die ihre Arbeit zu einem sehr geringen Preis anbieten. Betrogen wird meist nur der Staat, mit Schwarzarbeit. Kein Wunder, die Mehrwertsteuer beträgt 25 Prozent. Auch etliche fahrende Händler versuchen ihr Glück in den Dörfern und bieten abseits der etablierten Boutiquen und Schuhgeschäfte ihre Waren feil. Badeanzüge, Böcke, Hemden, Hosen, Arbeitskleidung, Gummistiefel oder Schmuck, natürlich alles ohne Bechnung. Manche werden erwischt, die Polizei ist ihnen stets auf den Fersen.

Aber auch legale Geschäfte beginnen zu blühen. Etwa in Repcelak, einem Ort an der Durchzugsstraße zwischen Györ und Szombathely. Supermarkt, Pizzeria, Linde-Gaswerk und schiefe Strommasten, alles sehr pragmatisch und vieles neu, der Betrachter fühlt sich auf einmal wie in einen kleinen Ort der Vereinigten Staaten versetzt. Würde an der lila Hausmauer neben der Straße nicht äruhaz sondern Shopping-center stehen, wäre die Täuschung perfekt. Auf' der anderen Straßenseite blinken brandneue grellrote Dachziegel, die eine Beihe von Boutiquen und anderen Läden bedecken. Vor dem Kaffeehaus radelt eine Mickeymaus aus Stoff, der Ort hat sein architektonisches Vorbild offensichtlich im fernen Westen gefunden, aber der Gemüsehändler mit seinem Stand vor dem Supermarkt verleiht ihm doch wieder unverkennbar ungarischen Charme.

Ungarn, das „Mexiko des Ostens”, lebt offenbar von seinen Gegensätzen, dem Nebeneinander von Wirtschaftswachstum nach US-amerikanischem Vorbild und gewachsenen dörflichen Strukturen, in denen auch etliche Modernisierungsverlierer zu Hause sind. Das Land steckt mitten im Umbruch, und es bleibt nur zu wünschen, daß es den Sprung in die Marktwirtschaft schaffen möge, ohne dabei seine Eigenart zu verlieren.

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