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Dörfer werden „entrümpelt“

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DIE ARCHITEKTEN UND INGENIEURE der Ortsplanungsstelle des Landesbauamtes haben einige Erfahrung im Umgang mit ihren gutwilligen, aber manchmal auch etwas starrköpfigen Landsleuten. Sie verstehen sie richtig anzufassen: Bei der Ortsbegehung von Vordersdorf bei Wies, einer kleinen, 920 Einwohner beherbergenden Gemeinde zwischen Wies und Schwanberg in der südwestlichen Steiermark; bleibt der Bürgermeister vor einem ehrwürdigen, stilreinen Bauernhof mit vorspringendem Steildach stehen und sagt: „Der soll abgerissen werden. Der Besitzer will sich ein neues Haus bauen!“ Die Fachleute antworten mit Stirnrunzeln. Sie umschreiten das Haus, bleiben da und dort stehen, bewundern die alten Zeichen auf den stattlichen Trambäumen und sind des Lobes voll. „Oder net?“ fragt jetzt der Bürgermeister unsicher und holt den jungen Besitzer, der gleich die Planskizze des neuen Hauses mitbringt. Er ist nicht wenig erstaunt, als er sieht, daß Architekten sein „altes“ Haus bewundern. Mit zugekniffenen Augen schaut er nun selber auf seinen Hof, als ob er ihn zum erstenmal begutachtete. Ein wenig Stolz liegt in seinem Mienenspiel. Er führt die Herren in die gute Stube. Und hier fällt die Entscheidung: „Das Haus ist nicht abbruchreif. Abreißen, das wäre eine Sünde! Das Haus steht noch länger, als Ihr neues Haus stehen wird. Es ist das schönste Haus und das älteste der ganzen Gemeinde!“ — „Wohl, wohl, so solid baut ma freilich heut net mehr!“ beteuert der junge Besitzer, der noch vor zehn Minuten gesonnen war, das Haus seiner Väter abzureißen. Er wird nun seinen Neubau hinter dem alten Haus erstellen.

Auf der nahegelegenen Wiese entdecken wir zufällig einen riesigen, kunstvoll bearbeiteten 'Eichenstamm und, wenig entfernt davon, eine dazugehörige gedrehte „Spindel“. Beides Bestandteile einer alten aufgelassenen Obstpresse. Sie liegen schon seit langem hier. „Das sind ja die gegebenen Rohstoffe für den Ortsbrunnen und den Wegweiser. Ein jünger Künstler kann hier eine schöne Aufgabe bekommen!“ Die Hochschätzung seiner Güter von Seiten der Fachleute machen den jungen Bauern herzweich. Er schenkt die „Rohstoffe“ großzügig der Gemeinde.

SOLCHE ENTDECKUNGEN sind bei Ortsbegehungen nicht selten. Die Ansässigen sind ortsblind, aber nicht taub. Mit gespitzten Ohren sind sie beim Rundgang durch ihren Ort dabei.

Und hier das Ergebnis der Ortsbegehung von Vordersdorf in Stichworten: Dorfkapelle durch Dränagieren trockenlegen. Häßliche Lichtleitung zur Kapelle abnehmen, das rote „ewige“ elektrische Licht abmontieren, schöne Kerzen für Gottesdienst und Andacht verwenden. Kahle Rückseite der Kapelle als Mahnmal für die Gefallenen durch einen Künstler gestalten. Platz vor und um das erweiterte Gemeindehaus nach Planskizze, Uferböschung mit Weiden, Eschen und Haselnußsträuchen bepflanzen. Dahinter Mäuerchen mit Terrassenaufbau aufführen. Bänke, Tische, Dorfbrunnen hier aufstellen. Linde pflanzen. Hier soll ein Ortszentrum entstehen. Am Gemeindehaus selber die vier Türen zu den Nutzgemeinschaften in gleicher grüner Farbe streichen. Die mittlere Türe in Naturbeize belassen. Die „wilden“ Plakatwände an Scheunen, Gasthöfen, Bäumen und beim Kaufmann Holzer durch die Schuljugend entfernen lassen. Flußbett reinigen. Badestelle errichten.

Warum Ortsverschönerung? Den rührigen jungen Bürgermeister treibt ein gesunder Ehrgeiz und eine echte Heimatliebe dazu. Das Steirische Gedenkjahr 1959 soll Anlaß sein, „seinen“ Ort zu entschandeln und zu verschönern.

DIE ORTSBEGEHUNGEN werden in der Steiermark gegenwärtig unter vollem Einsatz aller zuständigen Stellen betrieben. Hier wird das Gedenken der 100. Wiederkehr des Todesjahres Erzherzog Johanns einmal anders begangen. Viele historische Orte, deren Ver-schandelung oft besonders schmerzlich ist, fegen ihre Stuben rein. Aber auch kleine, seither wenig beachtete Dorfgemeinden, wie unser Beispiel Vordersdorf, sind eifrig bei der „großen Putzerei“. Das Scnönste, das die Oitsbegehun-gen zeitigen, ist die Weckung echter Heimatliebe. Ist sie einmal aus dem nationalistischen Dornröschentraum erwacht, dann wachsen die guten Früchte von selber, ohne viel behördliches Eingreifen. In St. Anna am Aigen, dem Grenz-ört im Südosten der Steiermark, wurde kürzlich bei der Ortsbegehung mitten auf dem Ortsplatz eine plakatverklebte Hütte „entdeckt“, die einen wunderschönen Radbrunnen enthielt. Wenige der jüngeren Bewohner kannten dieses Schmuckstück des Ortes. Nun wird die Hütte abgetragen, der Brunnenschacht abgesichert und ein handwerksrichtiges Holzdach nach Skizze aus dem Holz der Hütte hergestellt. Der ganze Ort ist beglückt von dieser „Entdeckung“!

Seit acht Jahren arbeitet die Ortsplanungsstelle des Landesbauamtes schon an der Verschönerung der Orte und der Landschaft. Unmittelbar nach dem Krieg haben einige beherzte Architekten die durch Kampfhandlungen zerstörten Orte „begangen“ und mit Rat und Tat den Wiederaufbau gesteuert. Bundes- und Landesgesetze, die die Bewirtschaftung der Baustoffe verfügten, gaben anfangs den Raum- und Ortsplanern die Möglichkeit, da und dort mit sanfter Gewalt auf die Bürgermeister als baupolizeiliche Behörde einzuwirken. Die ersten Erfolge stellten sich in den zerstörtesten Orten ein: in Riegersburg, Wenigzell, St. Jakob, Hartberg. Fehring. Feldbach und Fürstenfeld. Damals wurden 14.000 Bauten vom Standpunkt der Baugestaltung und Landesplanung überprüft und intensive Aufklärung betrieben.

Grundsätzlich Wird die Ortsbegehving vom Bürgermeister geleitet, den ein Ortsplaner als Fachmann, ein Baureferent der Gemeinde oder des Bezirkes, ein Vertreter der Fremdenverkehrsorganisation, ein Fachmann für Grünpflanzungen, ein Vertreter der „Arbeitsgemeinschaft für Landschaftsgestaltung“ und die einzelnen Besitzer begleiten. Die Bevölkerung wird über die Ortsbegehung unterrichtet und aufgefordert, der Kommission etwa vorhandene Planungen , und,..Vorschläge unverbindlich bekanntzugeben Art Ort und Stelle, während der Ortsbegehung, werden die Vorschläge des Ortsplaners in Handskizzen festgehalten. Solche Skizzen wirken oft Wunder an Einsicht und

Nachgiebigkeit. Die besprochenen Verbesserungen und Veränderungen werden später in einem Protokoll festgehalten, das der fachliche Berater bearbeitet und das allen zuständigen Stellen zugeht.

Sichtbare Erfolge durch Ortsbegehungen haben in letzter Zeit zu verzeichnen: Mariazell, Obdach, Oberwölz, Oberzeiring, Radkersburg, Vordernberg, Unzmarkt, Weißkirchen bei Judenburg, Wies. In diesem Jahr wurden „begangen“: Riegersburg, Hattendorf, Kapfenstein, St. Anna am Aigen, Leutschach, St. Georgen an der Stiefing, St. Veit am Vogau, St. Johann im Saggautal, Mitterndorf, Pöllau und Pöllau-berg, Dechantskirchen, Admont, Altenmarkt bei Wildon, Pürgg, Krieglach, Laßnitzhöhe, Ird-ning u. a.

DIE KOSTEN DER ENTSCHANDELUNG sind, wie die Erfahrung lehrt, gering. Das wichtigste ist, daß einige mutige Männer die Sache betreiben und sich die Mitarbeit der Ortsgemeinschaft samt der Jugendverbände zu sichern wissen. In einem jüngst von der „Arbeitsgemeinschaft“ herausgegebenen „Merkblatt für Ortsbegehungen“ werden vier Arbeiten behandelt, die in jedem Fall an jedem Ort ohne besondere Kosten durchgeführt werden können:

1. Entfernen von Abfällen, Gerumpel,' wertlosen Bauresten, zerstörten Einfriedungen, dürren Hecken, Stacheldraht, Brennesselhalden, Erd-, Sand- und Schotterhaufen, Bauhütten und Er-

Zeugnissen der Betonwarenindustrie, wie Betonvasen, Pyramiden, Kugeln in Gartenanlagen und Vorgärten.

2. Gründliche Reklamereinigung: Entfernen zweckloser alter Reklame auf „wilden“ Reklameflächen, wie Scheunen, Bretterwänden, Baumstämmen. Aufstellen gut gestalteter Plakatwände an geeigneten, das Straßen- und Ortsbild nicht überschneidenden Standorten.

3. Entdrahten des Luftraumes über Straßen und Plätzen und Friedhöfen. Aenderung des Standortes von Masten, wenn diese das Ortsbild stören. Allmählicher Uebergang zu Kandelaberleuchten mit verkabelten Zuführungen der Stromleitung. Keine Peitschenleuchten!

4. Gärtnerische Pflege bestehender Grünanlagen, Vorgärten, Spiel- und Sportanlagen. Vorwiegend Rasen mit einzelnen Strauchgruppen und Bäumen! Anlage neuer Grünflächen im Ortsraum, Baumpflanzungen am Ortseingang, zum Bahnhof, zum Sportplatz, zum Friedhof, rund um den Friedhof und auf freien Plätzen im Friedhof. Sanierung von Oedflächen am Ortsrand. Bepflanzen von Industriehalden, trockengelegten Bachbetten. Begrünung von Industrieanlagen. Säubern von offenen Gerinnen, Bächen. Weitere Richtpunkte gelten der Verschönerung und der Raumgestaltung. Ihre Erfüllung erfordert Mittel, die sieh auf weite Sicht bezahlt

5. Instands'etzen und PÜrbeln der Fassaden nach Färbelungsplan für ein in sich geschlossenes, einheitliches Ortsbild; vorwiegend helle, pastellartige Farben verwenden. Holzbauten: Fassaden auffrischen. Hausbeleuchtungskörper erneuern. Künstlerisch gestaltete Hauszeichen anbringen. Ueber ganze Hausfassaden laufende Firmentitel übertünchen. Pflege der sanitären Anlagen. Parkplätze mit Baumpflanzungen anlegen.

6. Gedenkstätten ordnen. Gut gestaltete Trinkbrunnen im Ortsraum aufstellen, bestehende neu gestalten.

7. Bei baulichen Veränderungen und Neusiedlungen die Ortsplanungsstelle und den Landeskonservator beiziehen. Besonders wichtig bei Kriegergedenkstätten, Denkmalen kirchlicher und profaner Art.

Grundsätzlich zu vermeiden: Schlecht gewählte Baufluchten. Ungeplante und ungeordnete Nutzung der Freiflächen, Gärten und Verkehrsflächen. Uneinheitliche Dachformen und Dachdeckungsarten. Ueberhohe Einfriedungen aus Zemeritmachwerken in schlecht gewählter Flucht. Unorganische Anordnung mehrgeschossiger, zur Nachbarschaft nicht passender Bauten. (Aufgeblasene Villenarchitektur paßt nicht in ländliche Siedlungsgebiete. Bauwerk und Landschaft müssen harmonieren.) Bodenständige, überlieferte Bauformen und Herstellungsarten pflegen und aus ihnen neue Formen entwickeln. Holz- und Putzbauten nicht ungeregelt nebeneinanderstellen. Verbauungs- und Flächennutzungsplan anlegen.

DER WETTSTREIT steirischer Gemeinden im Entschandeln und Verschönern wird durch Verleihung von Dankzeichen gewürdigt. Was in diesem Bundesland gegenwärtig vor sich geht, ist für ganz Oesterreich beispielhaft. Das neue Antlitz der Heimat soll zeigen, daß der Oester-reicher nach dem Verlust seines Vaterlandes wiederum neuen Glauben und neue Liebe zu seiner Heimat gewonnen hat. Was in hundert Jahren Unverstand, Protzentum, rüc!3icVslose Profitgier, was in jüngster Zeit die Allrnherr-schaft des Rechenstiftes in Technik und Wirtschaft, was die Vermassung des Menschen und die Verachtung des Ueberlieferten ini Menschen und seinem Ortsbild verunstaltet ha'-'-n, kann freilich nicht von heute auf morgen schon ausgemerzt sein. Es ist viel, daß ein Anfaig gemacht ist und sich eine Gewissenserforschung eingestellt hat.

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