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Madrid 59

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„WENN SIE NACH MADRID KOMMEN", sagte einer meiner spanischen Bekannten in Barcelona, „müssen Sie zur Puerta del Sol gehen; da schlägt das Herz der Stadt." „Sie müssen in den Prado zu den Velasquez’, Goyas, Grecos und Murillos gehen, und dann ins Alba- Museum zu den Tizians und Rubens’ “, sagte ein zweiter. Ein dritter empfahl das Goya-Mausoleum und die präkolumbische Amerika- Sammlung im Marinemuseum, und ein vierter meinte: „Gehen Sie zum Palacio Real und blicken Sie von da über den Manzanares hinweg zu den grünen Hainen im Westen.“ — Ich ging zunächst in das erstbeste Nonstopkino, über dessen Eingang in großen, eiswürfelähnlichen Lettern die eben eingebaute Klimaanlage gepriesen wurde: denn die Augusthitze ist zweifellos der erste starke Eindruck, den Madrid zu bieten hat.

Wenn man am Flugplatz Barajos aus der Maschine steigt (ich erwähne meine Frequentierung dieses Verkehrsmittels nur deshalb, weil der Flug der zehnstündigen Fahrt von Barcelona in den stickigen, ratternden Waggons der RENFE nicht nur entschieden vorzuziehen ist, sondern weil die staatliche Luftfahrtgesellschaft „Iberia“ erstaunlich wenig verlangt) —, wenn man also in Barajos, etwa zehn Kilometer außerhalb der Stadt, das Flugzeug verläßt, vermeint man einen kräftigen Schlag zu verspüren. Als ob einem jemand mit einem heißen trockenen Handtuch über Nase, Mund und Augen schlüge. Es dürfte bis zu 48 Grad im Schatten haben, was allerdings nicht kontrollierbar ist: es gibt nirgends „öffentliche" Thermometer. Wozu auch.

DIE EINHEIMISCHEN BETEUERN, daß sie dereinst im Paradies nichts so sehr erfreuen würde wie ein kleines AusguckfensteE..aufihr Madrid. Wenn man sie als 'Fremder duf den Kopf zu fragen'Würde,’ wa sit da so-!gern weiterhin zu sehen wünschten, würden sie wahrscheinlich auf den Prado, auf das Wohnhaus Lope de Vegas in der Calle de Cervantes, auf die Basilika de Nuestra Sefiora de Atocha, auf das im Bürgerkrieg zerstörte und jetzt mit reichen Mitteln im Wiederaufbau begriffene Universitätsviertel und, aus Fremdenverkehrsgründen, auf den prachtvoll schattigen Parque del Retiro verweisen. In Wirklichkeit denken sie aber zweifellos in erster Linie an die weltstädtische Avenida de Jose Antonie — die „Gran Via“, und an die mit vielstöckigen prunkvollen Gebäuden und Luxusgeschäften bestückte Calle Alcalä, die ihre ganze Freude sind. Diese beiden breiten Straßenzüge bieten denn auch neben dem großzügigen und eleganten Boulevard Paseo de la Castelana wirklich das imposanteste Panorama, das sich die Architektur des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts ausgedacht hat: Londons City scheint vom Ruß gesäubert und hierher, ins lichte, südländische, mancherorts lateinamerikanisch anmutende Getriebe versetzt, an der nächsten Kreuzung könnte ohne Uebergang der Boulevard Hausman beginnen und hinter der übernächsten, stilleren Ecke könnte die Opernkreuzung liegen.

Bei näherer Betrachtung merkt man freilich, daß die neubarocken und pseudorenaissance- schen Prachtfassaden aus der Gründerzeit noch überladener, noch prunksüchtiger, noch weniger geschmackvoll — und die neueren Gebäude ihren fragwürdigen Vorgängern noch ähnlicher sind als in Paris und Wien.

Dort, wo die einen Kilometer lange Cale de la Princesa in die Avenida de Jose Antonio übergeht, steht inmitten einer Handvoll monumentaler Wolkenkratzer ein neuer, turmartig zum Himmel ragender Mammutbau vor der Vollendung. Wenn man rasch hinblickt, meint man die Silhouette der Moskauer Universität gesehen zu haben: Ein Vergleich mit dem Zuckerwerkgeschmack des heutigen Ostens, der, so unvorbereitet er den Betrachter hier auch antreffen mag, nicht selten zutrifft — sei es bei den Prunkbauten jüngeren (postrevolutionären) Datums, sei es, wenn man den Blick in die Auslage einer eleganten Möbelhandlung wirft in der, unverändert, wie vor siebzig Jahren, dem Plüsch hohe ästhetische Bedeutung zugemessen wird.

IN UNMITTELBARER NACHBARSCHAFT des laut-bombastischen und turbulenten Zentrums, auf der Plaza de Espana, steht in Bronze Don Quijotte auf seiner Rosinante: Ein keineswegs sehr kunstvolles Standbild jener geistigen Bedeutsamkeit von einst, die Madrid nahezu ausschließlich — in den Museumssammlungen und den an Kunstschätzen reichen Galerien beherbergt. Das Straßenbild der Geburtsstadt Tirso de Molinos, Lope de Vegas und Calderons bietet im Gegensatz zu den anderen Städten Spaniens nur wenige und wenig imposante Zeugen der Vergangenheit: Die .dem Escorial nachj gebildetę und mit barockem Beiwerk verzierte K a tKed’r af e ’ VtJtmrrt P nn ' heutig / ~G’eÄll f aus dem neunzehnten, das an die Wiener Hofmuseen erinnernde Königsschloß aus dem achtzehnten und der Großteil aller Kirchen und die gezählten kunsthistorisch wertvollen Paläste aus dem siebzehnten Jahrhundert.

Philipps Escorial, das ehrwürdige Mahnmal einstiger Machtfülle und Kultur, liegt 51 Kilometer außerhalb der Stadt — und überläßt die Erinnerung an die versunkenen Jahrhunderte dem relativ bescheidenen und kleinen, von Bränden, Kriegen und Revolution verschont gebliebenen, alten Stadtkern rund um die malerische Plaza Major. Hier wurden einst, als derlei noch aristokratisch war, Stiere gehetzt und Ketzer verbrannt. Der Hofstaat Philipps III., wird dem Fremden sachgemäß versichert, betrachtete das „bunte Treiben“ aus den Fenstern und von den Baikonen ...

Wenn man von dem betriebsamen und den Madridern so sehr ans Herz gewachsenen Platz Puerta del Sol, wo es zwar weder eine Puerta (Tor) noch mehr Sol (Sonne) als anderswo, aber immerhin ein imposantes Bündel nach allen Sei ten ausstrahlender Straßenschluchten gibt, die Xarerra.-.de (San Jezonimouentlanggeht, kommt zum Prado. Der langgestreckte, neuklassische Bau inmitten saftigen Grüns von Parkanlagen (der Park El Retiro ist nicht weit) wirkt schlicht und in einer gewissen Art intim, Wie eine stille, große, vornehme Villa. Man sollte den Prado nur an frühen Vormittagen betreten und sich für den Rest des Tages freimachen — und das am besten eine Woche lang: Die 97 Säle zweier Stockwerke enthalten nicht weniger als 3000 Gemälde, 300 Skulpturen und 4000 Zeichnungen, von denen ein großer Teil von Goya stammt.

Hier waltete, mehr als anderswo am Kontinent, die starke Hand kunstbesessener Monarchen: Grundstock der Galerie — heute „Museo National de Pintura y Escultura““ genannt — stammt aus der umfangreichen kaiserlichen Sammlung Karls V., die von Philipp JI. und seinen Nachkommen bereichert wurde. Mehr als 50 Gemälde von Velasquez, Dutzende Murillos, Grecos, Riberas, Hereras, Zurbarans, Goyas, Alonso Canos, Juan .Carrenos, Arias Fernandez, Vincente Lopez, Pedro Nunez, Juan Rizis — daneben van Dyck, Rubens und Breughel, Tizian, Tintoretto, Veronese. Raffael und Botticelli,

„Wattpau,5o,Tęwers nd . Rembrandt, Holbęin, i-Lwcas - Gsanach-r und- -Hietsanymus Bosd(tex.4ie įngę vije įi grtjahjiMg gUn- zendert Meister klasse, ohne die es Kaum das Abendland gäbe. An diesem leuchtenden Ort Madrids weht der Geist Europas — sogar was die Touristen anbelangt: sie sind seltsam still in diesen Räumen.

DIE VERGANGENHEIT WIRD TÄGLICH UM 18 UHR GESCHLOSSEN: da sperren die Museen. Das Leben, das heutige, vorwärts drängende, pulsierende Getriebe der Gegenwart übertönt den reichen Schatz der Stille — und schickt sich an, in die Spuren der internationalen Konjunktur zu treten. Rein äußerlich bemerkt man es an einer sehr auffallenden Veränderung des Straßenbildes: vor einem halben Dutzend Jahren besorgte den Großstadtverkehr ein nach Tausenden zählendes Sortiment der ältesten Autotypen, die im westlichen Europa anzutreffen waren. Heute herrscht, wie in Frankfurt und in Brüssel, der Straßenkreuzer, vom Mercedes 300 bis zum Cadillac.

Die Schaufenster sind reichhaltiger, modischer, „westlicher“ geworden, aus den Buchhandlungen sind die übersetzten Ausgaben von Hitlers „Mein Kampf“ und „Das war die SS“ und die zahlreichen Historien des Dritten Reiches (die 195 5 überall zu sehen waren) zwar noch immer nicht der lückenlosen westlichen Gegenwartsliteratur, doch immerhin der — Collette, Pearl Buck und dem „Dr. Schiwago“ gewichen. Nur die Elektrohandlungen und Installationsgeschäfte, deren im Inland erzeugte Radioapparate, Staubsauger und Mixer an überdimensionale Spielzeuge erinnern, zeugen von dem noch immer chronischen Devisenmangel.

Die energisch vorangetriebene Bautätigkeit, die, so als geschähe es über Nacht, an der nördlichen Peripherie der Stadt riesige moderne Wohnviertel von der Größe ganzer Bezirke aus der gelben Erde stampft, der wachsende Zustrom von Touristen und — was schwerer wiegt — Millionen Dollar schwerer Wirtschaftsdelegationen tünchen die riesige und prunkvolle Metropole einer jahrelang abseitsgelegenen souveränen Provinz mit dem Verputz einer jungen, aufstrebenden Weltstadt.

Madrid, die Stadt mit den bescheidenen Wahrzeichen einer verhältnismäßig kurzen Vergangenheit, glich diesbezüglich einst dem Wilhelminischen Berlin: Heute ist West-Berlin in gewisser Art die Parallele. Auch Madrid hat seinen Anteil am Wirtschaftswunder ...

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