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Die Geheimnisse von Paris

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DIE GEHEIMNISSE VON PARIS: Das war der Titel eines einst vielgelesenen und immer wieder neu aufgelegten, etliche Male verfilmten Schauerromans des Kolportageautors Eugene Sue: Mit angenehmem Gruseln las der Bürger von einem Paris, das er nicht kannte, von einem Paris der Diebe und Räuber, von einem Paris der Bettlerbanden, von einem Paris, das das helle Licht des Tages scheute. Und vom edelmütigen Grafen mit der eisernen Faust, der unter dem Gesindel ebenso wie unter den Edelschurken kräftig aufräumte.

Der Zertungsverkäufer

Dieses Paris gibt es längst nicht mehr. Der Präfekt Haußmann, der seinem Kaiser Napoleon III. zuliebe Paris in eine glänzende Residenzstadt verwandelte, hat die alten Elendsviertel demolieren lassen.

Und die Geheimnisse sind heute längst keine mehr. Paris ist nüchtern und arbeitsam wie jede andere Großstadt auch. Dieses Alltagsgesicht der Stadt an der Seine freilich kennt der Tourist kaum. Denn die Stadt erwacht früh. Nicht zu den heiteren Klängen eines Musettewalzers; ein höchst prosaisches Weckerklingeln reißt das arbeitende Paris aus dem Schlaf. Zur Arbeit, zum Alltag. Ohne Romantik, ohne Geheimnisse...

UM FÜNF UHR FRÜH scheinen die Absätze des einsamen Passanten mit doppelter Lautstärke die Häuserfronten entlang zu klappern, gurren ein paar Tauben zwischen dem Winkelwerk vieler Dächer und Dachrinnen und dreht sich der Vagabund auf seinem mit Zeitungspapier ausgelegten Lager am Eingang der Metro zweimal um, bevor er weiterschläft.

Kühl ist es in diesen Morgenstunden — trotz drückender Hitze während des Tages, die Champs Elysees sind menschenleer, und der Are de Triomphe hebt sich grau und wuchtig über die sternförmig auseinanderlaufenden Straßen des Etoile. In den Parks stehen die Steinfiguren etwas seltsam auf ihren Sockeln —

so, als wüßten sie nichts Rechtes mit sich anzufangen. Aber der kleine Zeitungskiosk am Place Odeon hat schon seine Rolladen heruntergelassen, und irgendwo aus den vergitterten Fenstern einer Parterrewohnung schrillt das Alarmzeichen eines Weckers.

In „les Halles“, dem „Bauch von Paris“, wie Emile Zola die Markthallen nannte, ist jedoch schon um diese Zeit etwas von der regen Geschäftigkeit einer Großstadt zu spüren. Da werden Waren aus- und umgeladen, schwere Lastwagen kreuzen hupend die Straßen, dazwischen unzählige kleine Wägelchen mit Gemüse, Obst und riesigen Fleischstücken. Da wird gefeilscht und gehandelt, Großunternehmer verschaffen sich Einblick in die jeweilige Marktlage, Berge von Gemüse und Obst werden auf den Straßen oder Ständen ausgebreitet Marktfrauen preisen ihre Waren an, wobei ihr Geschrei alle Tonlagen durchläuft von den tiefsten bis zu den höchsten, um schließlich als dröhnender Summton über dem Getriebe zu hängen.

*

IM INNEREN DER HALLEN gibt es Fisch, Fleisch und Käse. Es riecht nach Blut und Innereien, die Steinfliesen sind naß von Abfällen und verschiedenen Säuberungsversuchen. Da hängen halbe Ochsenleiber an den Haken und daneben schwimmen lebende Fische in Trögen, während ihre toten Artgenossen zwischen Eis und grünem Petersil gelagert sind. Hühner hängen mit dem Kopf nach unten an den zusammengebundenen Beinen, andere sitzen stumm und dicht aneinanderge-drängt in den viel zu engen Kisten, um auf den Kochtopf zu warten.

Zahlreiche Clochards und Vagabunden suchen in den großen Abfallhaufen, Mülleimern und Rinnsteinen, um alles halbwegs Genießbare in Säcken und Taschen zu sammeln. Die meisten von ihnen müssen davon leben. Oft kommt es dabei zu Streitigkeiten um das beste Stück. Bei Raufereien treten dann die Polizisten in Aktion, und so mancher Clochard muß einen freien Tag mit dem Kittchen vertauschen.

*

DIE PARISER MARKTHALLEN, die täglich von 5 bis 8 Uhr geöffnet sind, sind sicher eine der interessantesten Sehenswürdigkeiten dieser Stadt. Schon im Mittelalter wurden hier Waren verkauft. Damals allerdings nicht nur Lebensmittel, sondern alle Arten von handwerklichen Produkten aus Paris und den Provinzen. Im 19. Jahrhundert wurden die zehn Markthallen errichtet, die bis heute ihrer Bestimmung gerecht geworden sind. Allerdings wurde in jüngster Zeit einec

Verlegung derselben in einen Vorort geplant, um eine bessere Verteilung der Produkte zu ermöglichen und einen der übelsten Flaschenhälse des Verkehrs zu beseitigen.

Ein Stück Romantik wird mit ihnen Paris verlassen haben.

Um 5.30 Uhr fährt die erste Untergrundbahn und in den Straßen wird es langsam lebendig. Die Züge aus den Vororten sind meist überfüllt. Arbeiter, Angestellte, Sekretärinnen und Verkäuferinnen, die in Vororten wohnen und im Zentrum arbeiten, stauen sich Sitz an Sitz und Kopf an Kopf in den Abteilen. Jeder Metroeingang spuckt schubweise sein Inneres aus. Rasches Getrippel über Stufen, durch Gänge! Die Morgenzeitung und ein Espresso an der Theke irgendeines Cafes. Die ersten Brote werden verkauft — „baguettes“, die durch ihre Länge berühmt geworden sind — und die ersten Milchwagen rollen durch die Straßen. Paris, die Stadt des Charmes und des Vergnügens, beginnt sein Arbeitsgesicht anzulegen. Dem Touristen allerdings wird es meist verborgen bleiben. Denn wer besitzt schon die Selbstüberwindung, freiwillig um fünf Uhr aus seinem Bett zu steigen?

Aber auch wenn unterirdisch und in einigen Geschäftsvierteln bereits eine Großstadt pulst — die Seinequais und die zahlreichen Brücken sind davon noch unberührt geblieben. Ein seltsamer Anblick: dort, wo tagsüber das bunte Völkergemisch von Paris promeniert, nach besonderen Gelegenheitskäufen in den Kästen der Bouquinisten oder auch Urlaubsbekanntschaften sucht, wo die Buchverkäuferin unter ihrem aufgespannten Sonnenschirm den Tag verdöst und viele Liebespärchen auf den Bänken sitzen — dort führen jetzt lange Alleen in feierlich stummen Parademärschen einzig den Morgen spazieren.

*

BALD JEDOCH STEIGEN die ersten Clochards die Treppen der Seineufer hoch, und weil es kalt ist, reiben sie sich die Hände und zünden vorerst einmal den Zigarettenstummel an, den sie irgendwo auf der Straße gefunden haben. Für sie ist Paris um diese Zeit nichts Ungewöhnliches — sie erleben es jeden Tag.

Vielen dieser seltsamen Außenseiter, die sich weigern, einer geregelten Beschäftigung nachzugehen, muß die Stadt auch heute noch Unterkunft gewähren. Man kann sogar sagen, daß sich ihre Zahl vergrößert hat, denn oft besitzt gerade diese Art zu leben für konsummüde Bohemientypen einen gewissen Reiz. Und so gibt es nicht nur französische Clochards, sondern auch solche aus Deutschland, England, Schweden und den USA. Sie schlafen unter sn Brücken, auf der Spitze der He

de la Cite oder auf Irgendeiner Bank — ob mit oder ohne Decke, hängt von den jeweiligen Vermö-gonsverhältoissen ab —, sie leben von Abfällen oder Gelegenheitsarbeit. Sie sind ein Kuriosum von Paris — sie wissen es — und sind stolz darauf.

Um etwa 7 Uhr beginnt in Paris das Großreinemachen. Geschäfte werden gereinigt, Schaufenster werden gereinigt, Restaurants und die Quais der Untergrundbahn. Die Hydranten in den Rinnsteinen werden aufgedreht und die Straßenfeger kehren Abfälle, Papier und sonstiges zu großen Haufen zusammen, um die Müllabfuhr zu beschäftigen. Die kleinen Französinnen hängen ihre Spitzenunterwäsche an die Wäscheleine ihrer vielbesungenen Hinterhoffenster, die Concierge beginnt den Hausflur zu reiben und vereinzelt werden sogar die Wege in den Parks geputzt. Madame jedoch läuft im Morgenrock auf die Straße, um ihre Frühstückskipfel einzukaufen.

DER VERKEHR HAT ZUGENOMMEN. Wie aufgefädelt ziehen die Autos durch die Straßen der Innenstadt. An den Omnibushaltestellen mehrt sich die Zahl der Wartenden. In den Restaurants der Rue Rivoll und am Boulevard Michel werden die über Nacht zusammengestellten Stühle und Tische abgebaut. Die Cafes beginnen einzuladen — die Espressomaschine surrt, Monsieur Gargon bindet sich eine weiße Schürze um: das ist der Auftakt zum allgemeinen Tagesbeginn dieser riesigen Metropole.

Und nun geht es Schlag auf Schlag. Die Portiers der großen Hotels öffnen die Eingangstore, die Lastwagen vor den Warenhäusern liefern sich wahre Verladungsschlachten, Boucherie, Boulangerie und Charcuterie haben geöffnet, berufstätige Pariserinnen wollen rasch ihre Einkäufe tätigen und vor den Bäckereien stehen die Menschen Schlange. Paris beginnt sich zu regen. Es summt, stampft, rollt — in den Markthallen, in der Setzerei des „France Soir“ und des „Figaro“, auf den Champs Elysees mit ihren glänzenden Autoschlangen. Und am Etoile wird von der amerikanischen Studentin bereits die „New York Times“ ausgerufen.

Um 8 Uhr zeigen sich die ersten Touristen auf den Straßen. Es sind dies die ganz eifrigen oder diejenigen, die am Vortag auf ein Nachtleben verzichtet haben. Sie hängen sich die Kamera auf die Brust und spazieren über die Brücken zuNotre Dame oder zum Eiffelturm. Viele auch lassen sich irgendwo einen Cafe creme servieren mit butterbeschmiertem Sandwich. Denn Spaziergänge machen müde...

Manche Geschäfte werden erst um 9 Uhr oder noch später ihren Kunden zur Verfügung stehen. Dann auch werden die Ventilatoren in den großen Reisebüros und in der „Air France“ zu surren beginnen und auf den Globen mögliche Reiserouten festgelegt werden. Madame wird charmant in die Spiegel großer Modehäuser lächeln und Monsieur dazu eine dicke Brieftasche ziehen. Die Maler am Montmartre ihre Staffeleien aufstellen, im Sacre Coeur die erste Messe gelesen werden und Mona Lisa ihr Lächeln tausenden Betrachtern schenken. Die Stadt wird sich zeigen, wie sie jeder kennt.

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