Die verlorene Ehre der Grande Nation

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Frankreich ist mit Deutschland Europas führende Macht - politisch und wirtschaftlich. Aber hinter der Fassade droht das Land an seinen sozialen Gegensätzen zu zerbrechen.

Der Regen hängt wie ein nassklammer Handschuh über den Dächern von Paris, der Eiffelturm verbirgt sich hinter einem silbrigen Chiffon. Es ist ein typischer Wintertag in der französischen Hauptstadt. Im schicken Saint-Germain-des-Prés-Viertel stolzieren Frauen in Chanel über den Boulevard, Limousinen mit getön-ten Scheiben fahren am legendären "Café de Flore“ vorbei, wo einst Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir ihre Bücher besprachen.

Vor den Schaufenstern der Luxusboutiquen knien Bettler auf Pappkartons und bitten um eine Gabe. "J’ai faim“, ich habe Hunger, steht auf einem Schild geschrieben. Es klingt wie eine Anklage. Im sechsten Arrondissement prallen die Gegensätze aufeinander: Bourgeois-bohème (Bobo) und Clochards, Dekadenz und Armut. Florica, eine Obdachlose, (SDF, sans domicile fixe), hat sich vor dem Einkaufszentrum "Monoprix“ in der Rue de Rennes aus alten Regenschirmen einen Unterstand gebaut. In einem Kinderwagen befindet sich ihr Hab und Gut. Ein paar Büchsen, ein Schal, abgelaufene Lebensmittel. Floricas Haare sind zerzaust, der zerschlissene Strickpullover durchnässt. "Helfen Sie mir!“, sagt die Frau mit gebrochener Stimme. Jeden Tag ruft sie die "115“ an, die Rufnummer für Notunterkünfte. Die alte Frau mit den tiefen Furchen im Gesicht hat eine Sprachbehinderung und ist auf sich allein gestellt. An manchen Tagen findet sie keinen Schlafplatz. Die Nachfrage nach karitativen Unterkünften ist im letzten Jahr um 17,5 Prozent gestiegen. Die Wohnheime platzen aus allen Nähten. In den kalten Winternächten wird es noch enger werden.

Rund 120.000 Menschen haben im Großraum Paris keine feste Unterkunft. Die grüne Ministerin für sozialen Wohnungsbau, Cécile Duflot, fordert eine (vorübergehende) Inbesitznahme leer stehender Gebäude, um die Obdachlosen unterzubringen. Neben öffentlichen Gebäuden wie Kasernen und Krankenhäuser hat Duflot auch private Bürogebäude im Visier, die seit Jahren leer stehen und Investoren als Spekulationsobjekte dienen. "Jedes Mittel ist recht, um die Menschen von der Straße zu holen“, so die Ministerin.

Ein Herr der Habenichtse

Das Heer der Habenichtse wächst unaufhaltsam. In La Courneuve im Département Seine-Saint-Denis nördlich von Paris liegt die Arbeitslosenquote bei über 25 Prozent, die Haushalte müssen mit weniger als 10.000 Euro im Jahr auskommen. "Manche Eltern sind in einer solch prekären Situation, dass sie ihre Kinder einmal am Tag in die Kantine schicken, um ihnen wenigstens ein warmes Essen zu gewähren - auch wenn sie die Rechnung nicht bezahlen können“, sagt die Sozialarbeiterin Sonia Lemlou. In der Gemeinde leben vor allem Einwanderer aus dem Maghreb: Algerier, Tunesier, Marokkaner. Zwischen den Hochhäusern und Kasernensiedlungen riecht es nach Ausgrenzung. In der berüchtigten "Cité des 4000“, einem betrüblichen Betonkomplex, kommt es immer wieder zu Schießereien. "Wir spüren die Anspannung“, sagte der kommunistische Bürgermeister der Stadt, Gilles Poux, in der Tageszeitung Le Monde. "Die Leute haben den Eindruck, eine Mauer vor sich zu haben.“

In diesem Klima sorgen populistische Äußerungen für Zündstoff. Jean-François Copé, Rechtsausleger der oppositionellen UMP, denunziert einen "racisme anti-Blancs“, einen Rassismus gegen Franzosen. Schulkinder ließen sich während des Ramadans von Arabern "das pain au chocolat aus der Hand reißen“. Die Aussage rief einen Sturm der Entrüstung hervor. Die Satiresendung "Les Guignols“ griff die Entgleisung auf. In der Umgangssprache der Pariser kauft man beim Bäcker mittlerweile ein "copé“. Doch so komisch diese Geschichte klingt, so ernst ist ihr Hintergrund: Die Verteilungskämpfe werden härter. Vor dem Hintergrund knapper Ressourcen müssen die Bürger den Gürtel enger schnallen. "Wird Frankreich das neue Griechenland?“, fragte die Bild-Zeitung polemisch.

Mit dem Erbe Sarkozys brechen

"Wir sind ein altes Land mit vielen Reichtümern“, sagt der Rentner Robert Paul, der mit dem Figaro unter dem Arm den Boulevard Raspail entlang schlendert. "Das französische Fiskalsystem ist funktionsfähig, der Staat zieht seine Steuern ein.“ Die Frage sei vielmehr, wo man an der Stellschraube dreht. Wo klemmt es? Für den ruppigen Mittsechziger ist die Antwort klar: "Bei der sozialistischen Regierung.“ Der Unmut über die neue Staatsführung wächst. Präsident François Hollande ist in den Umfragen im freien Fall. Nur rund ein Drittel der Wähler vertraut dem Staatschef. Gleiches gilt für Jean-Marc Ayrault. Dem Ministerpräsidenten wird mangelnde Autorität vorgeworfen. Erst jüngst verplapperte er sich in einem Interview mit der Tageszeitung Le Parisien, als er eine Rückkehr zur 39-Stundenwoche erwog. Die 35-Stundenwoche ist für die Sozialisten eine heilige Kuh.

Die Regierung hat die Abgabenbefreiung der Überstunden ("heures supplémentaires“) von 35 auf 39 Stunden abgeschafft. Sie wollte mit dem Erbe Sarkozys brechen, der versprach, "wer mehr arbeitet, verdient mehr“. Die Verluste für Belegschaft summieren nach einem Bericht des Wirtschaftsblatts Les Echos auf bis zu drei Prozent des Bruttolohns. Richard D., Hausmeister in einem privaten Wohnheim im Pariser Vorort Montrouge, ist von dieser Reform direkt betroffen. "Ich verliere dadurch jährlich 1000 Euro“, sagt er. "Die Leute arbeiten nun mehr für den gleichen Lohn. Das ist doch demotivierend“, echauffiert sich D. Der Mann mit den zupackenden Händen und dem kahlen Kopf kommt aus Pas-de-Calais im Norden Frankreichs. "Wenn die Regierung so weiter macht, fährt sie den Staat an die Wand.“

Kaum noch Wettbewerbsfähigkeit

Die Arbeitskosten sind in Frankreich im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hoch. 57,35 Prozent des Bruttoverdiensts müssen als Sozialversicherungsbeiträge an die Kassen abgeführt werden. Auf Drängen der Wirtschaft hat die Regierung im November einen "Wettbewerbspakt“ verabschiedet. Die Lohnnebenkosten für Unternehmen werden um 20 Milliarden Euro gesenkt. Gleichzeitig soll die Mehrwertsteuer von 19,6 auf 20 Prozent und der ermäßigte Steuersatz für das Gaststättengewerbe von sieben auf zehn Prozent angehoben werden. Die Betreiber sind empört. "Wenn man jetzt noch die Mehrwertsteuer erhöht, wird die Kaufkraft weiter sinken“, sagt die Chefin des Café "Sèvres-Babylone“ in Paris. Bereits im Januar 2012 wurde - damals noch unter der Präsidentschaft Sarkozys - der reduzierte Mehrwertsteuersatz erhöht. Die Gastronomen bekommen die Folgen zu spüren. "Die Kundschaft ist rückläufig“, klagt die Café-Besitzerin. Die Stühle sind zusammengeklappt, ein Pärchen wärmt sich in der Ecke an einer heißen Schokolade auf. "Die Leute haben doch sowieso kein Geld, warum nimmt man ihnen jetzt noch das wenige?“ Was sie über die sozialistische Regierung denkt? "Ich habe eine Meinung, aber ich sage sie nicht in der Öffentlichkeit“, zischt die resolute Frau und wischt mit dem Lappen über den Tresen, als wolle sie ihren Frust beiseite schieben. Vor der Tür prasselt der Regen weiter auf das Trottoir. Der Boulevard Raspail hat sich in eine dunkle Häuserschlucht verwandelt. Ein Bild mit Symbolcharakter: Frankreichs Wirtschaftaussichten sind düster.

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