6751494-1967_30_03.jpg
Digital In Arbeit

Wodka und Absinth

19451960198020002020

Vor genau 50 Jahren, zwischen der Februar- und der Oktoberrevolution, setzte der Strom jener russischen Emigration ein, der in den Gastländern eine breite, bis in unsere Gegenwart wirkende Spur hinterlassen solHe. Namhafte Vertreter des Ander regime, aus der Bahn geworfene Abenteurer, aber auch hervorragende Exponenten des kulturellen Rußlands, befanden sich darunter. Viele Tausende wurden von der Lichterstadt Paris magisch angezogen. Frankreich war ihr Ziel. Aus dem kulturellen, aber auch gesellschaftlichen Leben der Zwischenkriegszeit ist die „russische Kolonie“ nicht wegzudenken. Was ist aus den Russen an der Seine geworden) Was wurde aus der Mischung zwischen „Wodka und Absinth“! Unser Mitarbeiter Maximilian Benda untersucht in der heute beginnenden Sommerserie 1967 der „Furche“ das „russische Leben und russische Sterben“ in Frankreich. Die Redaktion

19451960198020002020

Vor genau 50 Jahren, zwischen der Februar- und der Oktoberrevolution, setzte der Strom jener russischen Emigration ein, der in den Gastländern eine breite, bis in unsere Gegenwart wirkende Spur hinterlassen solHe. Namhafte Vertreter des Ander regime, aus der Bahn geworfene Abenteurer, aber auch hervorragende Exponenten des kulturellen Rußlands, befanden sich darunter. Viele Tausende wurden von der Lichterstadt Paris magisch angezogen. Frankreich war ihr Ziel. Aus dem kulturellen, aber auch gesellschaftlichen Leben der Zwischenkriegszeit ist die „russische Kolonie“ nicht wegzudenken. Was ist aus den Russen an der Seine geworden) Was wurde aus der Mischung zwischen „Wodka und Absinth“! Unser Mitarbeiter Maximilian Benda untersucht in der heute beginnenden Sommerserie 1967 der „Furche“ das „russische Leben und russische Sterben“ in Frankreich. Die Redaktion

Werbung
Werbung
Werbung

Es ist nun 40 Jahre her, daß wh der russischen Emigrantenwelt ir Paris zum erstenmal begegneten Damals war das Gesicht der Seinemetropole von diesem zu Tausenden zählenden Menschenstrom geprägt, der nach dem Zusammenbruch der Wrangel-Armee über Konstantinopel, Belgrad, Prag und Berlin nach Frankreich gekommen war, um hier vorübergehend als „Schützlinge des Völkerbundes“ Asyl zu finden.

Die meisten fühlten sich auf Abruf im westlichen Ausland. Sie saßen auf ihren Koffern und träumten von der Rückkehr in die Heimat in absehbarer Zeit. Sie sahen im bolschewistischen Regime nur eine finstere Episode und hielten eine erfolgreiche Gegenrevolution und ausländische Interventionen für unumgänglich.

Erst allmählich in dem Maße, wie sich der Westen mit den neuen Herrschern im Kreml abzufinden begann und alle inneren Krisen und Erschütterungen die Sowjetmacht nicht zu brechen vermochten, wurde das Wunschdenken der Emigranten von einem tiefen Pessimismus abgelöst.

Doch es dauerte lange, länger als eine Generation, ehe sich die Russen in Frankreich des tragischen Schicksals der Heimatlosigkeit voll bewußt wurden und daraus die Folgerung zogen, daß der instinktive Widerstand gegen den Assimüierungspro-zeß allein schon aus praktischen Überlegungen aufgegeben werden müsse.

Das schnell verflogene Trugbild einer Befreiung Rußlands durch die Hitler-Armeen hat entscheidend zur schließlichen Resignation beigetragen. Heute ist die russische Emigration als politischer und soziologischer Faktor nur noch eine Erinnerung, die von einigen ständig verblassenden Symbolen und der Literatur wachgehalten wird.

Brodelnde Welt

Den älteren Zeitgenossen ist jene Epoche der russischen Invasion so gegenwärtig, als sei es gestern gewesen: nicht nUr wegen der kaum vorstellbaren Intensität, mit der sich diese fremde, bunte, brodelnde Welt über Frankreichs Hauptstadt ergoß und den erstaunten Parisern anfangs den Atem nahm, sondern wegen der fast physisch greifbaren Tragik einer Menschengruppe, die dem Heimatboden entrissen, entwurzelt zu einem unsteten Scheindasein verdammt ist.

Im Studentenviertel Quartier la-tin, in Montmartre und am Mont-parnasse schössen kleine russische Restaurants wie die Pilze aus der Erde, in den Kaffeehäusern auf den Großen Boulevards spielten Balalaikaorchester und sangen Kosakenchöre, und in den Nachtlokalen an der Place Pigalle ergriffen abwechselnd schwermütig-traurige und leidenschaftlich-ausgelassene Lieder russischer Zigeuner die Gäste.

Männer in bunten Kosakenuniformen standen als Portiers vor den Cabarets, in denen Admirale, Gardeobersten, Professoren und Damen des Hochadels die Nachtschwärmer mit kaukasischen Tänzen und schwermütigen Gesängen unterhielten oder ihnen als Kellner, Eintänzer, Serviererinnen und Blumenverkäuferinnen dienten.

Die Zahl russischer Taxichauffeure In Paris wird um die Mitte der zwanziger Jahre mit 5000 angegeben. Ganze Stadtviertel, vor allem die stilleren Wohngegenden von Passy und Auteuil, waren von Emigranten bevölkert. Sie hatten oft in kleinen Familienpensionen Zuflucht gefunden, die in den schwierigen ivacnicriegsjanren von ihren franzosischen Stammgästen verlassen worden waren.

Manche, die Familienschmuck und Vermögenswerte zu retten vermochten, gründeten kleinere Unternehmen, Modesalons, Nachtlokale, Buchhandlungen, russische Delikatessengeschäfte. Die meisten aber lebten im bescheidensten Rahmen von ihrer Hände Arbeit.

Da die strenge französische Gesetzgebung die Ausländer von den meisten Beschäftigungen ausschloß, waren sie in der Regel gezwungen, eine ihnen wesensfremde Tätigkeit auszuüben. Dieser Umstand erklärt die Massierung des russischen Elements im Nachtleben und in der Vergnügungsindustrie von Paris, dem der Bürger anfangs kopfschüttelnd und verständnislos gegenüberstand, ehe er sich damit abfinden konnte, daß es einen seltsamen Menschenschlag gibt, der seine Tage mit leidenschaftlichen Diskussionen auf Cafeterrassen verbringt und die Arbeit aufnimmt, wenn sich normale Sterbliche zur Ruhe begeben.

Doch mit den Jahren gewöhnten sich die Franzosen an diese fremde Welt. Sie hörten schließlich auf, in ihr einen störenden Fremdkörper zu erblicken. Auf der Grundlage der Koexistenz wurden die Russen zu einem integrierenden Bestandteil der so vielgesichtigen Hauptstadt an der Seine.

Angst vor Chaos

Man brachte ihnen in zunehmendem Maße Mitgefühl und Wohlwollen entgegen, ohne sich in ihre inneren Angelegenheiten zu mischen oder ihren Träumen von der baldigen Rückkehr in die befreite Heimat realen Kredit zu geben. Für die französische Mentalität blieb ihr Wesen undurchdringlich und von einem dichten Schleier des Geheimnisses umgeben. Dramatische Vorgänge wie die Ermordung des französischen Staatspräsidenten Paul Doumer durch den halbwahnsinnigen Emigranten Gorguloff sorgten dafür, daß den Franzosen selbst nach jahrzente-langem Zusammenleben die A:igst vor dem Chaos der slawischen Seele nie völlig genommen wurde.

Welchen Weg hat nun das Schicksal der Russen im Exil im Laufe der Jahrzehnte genommen? Wie stellt sich ihre Lage heute dar? Auf den ersten Blick nimmt der Beobachter nicht ohne Wehmut wahr, daß die Zeit zwangsläufig ihr unerbittliches Werk der Zerstörung vollbracht hat.

Auf den Boulevards ist die Ba'a-laikamusik verstummt, und die ungezählten kleinen Restaurants rund um die Sorbonne, in deren Vitrinen einst der Samowar neben der Wodkaflasche und der. Bojarenpuppe gestanden ist, während von den Wänden russische Motive, Zwiebeltürme Moskauer Kathedralen, über endlose Schneeflächen dahinjagende Troikas in malerischer Farbenpracht grüßten, sind verschwunden.

Die Lokale in der Rue Saint Jacques, Rue Royer-Collard und in der Rue Malebranche, die zwischen den beiden Kriegen den Gast durch den appetitlichen Duft von Blinis und Borscht und mit vielfältigen Sakus-kis angelockt hatten, haben heute chinesische Schriftzeichen auf ihren Schüdern.

Der freundliche Samowar wurde von Drachen und wild dreinblicken-den Ungeheuern ersetzt. Und selbst wenn man den Gerüchten von einer organisierten „Fünften Kolonne“ Pekings im Pariser Gaststättenwesen nicht ohne weiteres Glauben schenken möchte, ist man doch versucht, diese Metamorphose als symbolhaft zu empfinden.

Auf Schritt und Tritt begegnet man heute in Paris den äußeren Anzeichen des Sterbens einer Generation, die an Heimweh und unerfüllten Hoffnungen in der Fremde zugrunde gegangen ist. Man trifft

mir- nnnVi trßT“oiri7»lt rnccicpVio 'Ta'vichauffeure an, und die Überlebenden zählen nicht selten 70 und 75 Jahre. Es gibt zwar noch Offiziersorganisationen der ehemaligen Weißen Armee, aber sie haben keinen kämpferischen Charakter, keine aktive Mission mehr, und die Erinnerungen an die alte Zeit verblassen mit dem schwindenden Gedächtnis.

Zu abendlicher Stunde sieht man gelegentlich auf den Cafeterrassen kleine Gruppen gutgekleideter alter Herren sitzen, die man sofort als russische Emigranten erkennt. Sie blinzeln etwas müde und verloren in die lichterfüllte Nacht und richten kaum noch das Wort aneinander. Ihr Gesprächsstoff ist erschöpft, da es nichts gibt, was sie nicht von den Freunden und Bekannten wüßten.

Da die Sowjetregierung jetzt selbst aktiven Kämpfern der einstigen Wrangel-Armee Einreisevisen zum Besuch des Landes nicht verweigert, haben manche alten Emigranten ihre frühere Heimat in den letzten Jahren besucht. Zurückgekehrt nach Paris, versichern sie übereinstimmend, „drüben“ die gegenseitige Sprache nicht mehr zu verstehen. Man lebe in derartig verschiedenartigen Gedankengängen, daß auch die elementarsten Voraussetzungen für ein geistiges Näherrücken nicht gegeben seien.

Freilich, im abstrakten Bereich der Seele gibt es nach wie vor so etwas wie eine Kommunikation: Dieselben Leute geben zu, in Tränen auszubrechen, sobald sie eine Schallplatte mit dem Chorgesang der Sowjetarmee zu hören bekommen. Doch dieser innere Zwiespalt ändert nichts an der Tatsache, daß die nach dem zweiten Weltkrieg mit großem Aufwand betriebene Propagandaaktion der Sowjets, die Exilrussen zur Rückkehr in die Heimat zu bewegen, nur bei einer verschwindend geringen Zahl der Angesprochenen Gehör zu finden vermochte. Die meisten haben sich entschlossen, im Exil zu sterben.

Wenn man nun angesichts der überfüllten Alters- und Siechenheime und der in immer schnellerem Rhythmus zunehmenden Gräber des wunderschönen russischen Friedhofs in Sainte-Genevieve-des-Bois, auf dem neben dem Nobelpreisträger Mereschkowski zahllose seiner unbekannten Landsleute ruhen, die Frage aufwirft, ob generell von einem „letzten Kapitel der Emigration“ gesprochen werden könne, wird man diese Frage verneinen müssen.

Mit Recht wendet sich die kulturelle Prominenz und die intellektuelle Oberschicht, und zwar sowohl die Naturalisierten unter ihnen als auch diejenigen, die in der Erhaltung der Staatenlosigkeit ihr Nationalbewußtsein am besten demonstrieren zu können glaubten, gegen die hier und da verbreitete Tendenz, einen natürlichen biologischen Vorgang mit übertriebener Sentimentalität zu umgeben und über ihn Elegien anzustimmen.

Drei „Emigrations-Stufen“

Nicht vom Sterben der Emigration sollte man reden, so meinen sie, sondern von einem gegenteiligen Phänomen: vom ungewöhnlich großen, vom überragenden Einfluß der Exilrussen auf die französische Zivilisation, ja, auf die Zivilisation der gesamten westlichen Welt.

Dabei ist man geneigt, daran zu erinnern, daß man im 20. Jahrhundert von drei Stufen der russischen Einwanderungsbewegung nach

Frankreich sprechen kann: Bereits kurz nach der Jahrhundertwende kamen Gegner des Zarenregimes und russische Juden, die sich vor Pro-gromen in ihrer Heimat zü retten suchten, nach Paris. Dieser Zustrom hielt mit unterschiedlicher Intensität bis zum Ausbruch der Revolution an.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung