6708657-1964_11_16.jpg
Digital In Arbeit

Tokio ohne Kirschblute

Werbung
Werbung
Werbung

MIT DER MODERNEN DÜSEN-MACHINE kam man in Haneda an. In einem wackeligen Taxi fuhr man halsbrecherisch durch Kotacker, enge Gassen, an streunenden Katzen vorbei. Das war noch eine Stadt und das war noch Tokio. Jetzt fahre ich auf einer Autobahn, die alles in den Schatten stellt, was jemals Autobahn hieß. Drei Monate später werde ich die Wahl zwischen drei Autobahnen haben; einer auf der Erde, eine über der Erde, auf Säulen getragen, und die dritte rund um Tokio zum Hafen und in die Ginza. Quer durch die Stadt werden Autobahnen gebaut, übereinander, untereinander, in der Luft von Säulen getragen, und unter der Erde werden Kanäle gebaut und Tunnels für die Metro und für die Schnellbahn. Ganz Tokio ist ein Bauplatz geworden, es wird Tag und Nacht gebaut. Das Tokio von gestern scheint weggefegt zu sein, abgesoffen in den Seen aus feuchtem Beton. Das Tokio der Zukunft bricht aus, wie Felsen und Täler in einem Erdbeben. Wenn die Olympiade in Tokio eröffnet wird, in diesem Herbst, wird das Tokio der Zukunft schon fertig dastehen.

Tokio ist keine Stadt mehr. Eine Stadt beginnt und eine Stadt hört auf. Eine Stadt kennt die Nacht und eine Stadt kennt den Tag. Über den Straßen einer Stadt ist der Himmel. Tokio beginnt nicht und es hört nicht auf. Tokio hat die Nacht gestrichen. Am Tag liegt über Tokio der Staub und die Feuchtigkeit der Bauplätze. Nachts ist es über den Häusern rot, grün und blau von den Lichtreklamen oder strahlend weiß von den Scheinwerfern an den Baustellen. In Tokio gab es eine Kirschblüte. Die Kirschblüte gibt es nicht mehr. Über den Knospen liegt eine Schicht aus Öl und Staub und wenn die Blüten aufbrechen, sind sie unansehnlich und grau.

JETZT LEBEN SCHON ÜBER 10 Millionen Menschen auf diesem Bauplatz; in sechs Jahren werden es 15 Millionen sein, die versuchen, in einer Stadt zu leben, die längst zu groß für eine Stadt ist, und die das Leben darin faszinierend finden, faszinierend und fürchterlich. Das Leben der 10 Millionen Menschen in Tokio ist anders geworden, mit der Prosperität, die diese Stadt wachsen ließ und in die Höhe treibt, und seit zwei Jahren auch in die Viertel der Arbeiter einsickerte, in die Zwerghäuser der kleinen Beamten und in die Märkte der winzigen Geschäfte und Gewerbebetriebe. Die Intensität, die vor zwei Jahren das Leben in Tokio noch fiebrig und flimmernd machte, ist verschwunden. Die Unmittelbarkeit und die Fröhlichkeit, die manchmal knapp an die Grenze der Besessenheit führt, scheint der Zielstrebigkeit nach dem höheren Einkommen und dem Auto gewichen zu sein. Hektik ist an die Stelle der Intensität gekommen. Doch noch nicht die harte Hektik und die metallene Zielstrebigkeit von New York. An den Abenden, in den engen Gassen, wo eine Zwergbar nach der anderen ist, ein Coffee-shop, das „Beethoven“ heißt und ein anderes „Rainer Maria Rilke“, ist die Trance da, die früher über den Abenden von Tokio lag. Und stärker ist sie da, als der Geruch von Zement und der Schatten der Baugerüste aus Stahl.

DIE OLYMPIADE SOLL ZUM Leuchtfeuer der japanischen Größe werden, das überall auf der Erde gesehen wird. Japan denkt heute in größeren Räumen als früher, es verwendet andere Werkzeuge, die Räume zu öffnen. Transistorradio, Schiffe aus japanischen Werften, die auf allen Weltmeeren schwimmen und die Olympiade. Als das Internationale Olympiakomitee Tokio für die Olympiade 1964 wählte, lag 'er Akzent der Erwartungen auf Asien, auf Japan. Doch die Japaner bauten die Olympiade als ein Monument des internationalen Gigantismus unserer Zeit auf. Die Rekordsucht der Amerikaner wird übertrumpft. Im Oktober, wenn die Olympiade beginnt, werden die Bauplätze in den Zentren der Stadt verschwunden sein, die Hotels, die neuen Straßen, die Autobahnen werden die Boulevards von New York in das sentimentale Licht des Fin de Siecle stellen. Vielleicht wird der Sport sich erhalten können, im Schatten dieses Gigantismus; schwerer wird es Tokio haben. Man wird weit von den Zentren von Tokio wegfahren müssen, über Yokohama hinaus, oder man wird in die Slums, in die Vergnügungsviertel der Armen tauchen müssen, um von der Olympiade nach Japan zu kommen.

Auf dem Kommandoturm der Vorbereitungen für die Olympiade stehen zwei Männer, die beiden Minister Eisaku Sato und Ichiro Kono. Die Eröffnung der Olympiade ist für die beiden Minister der Startschuß zum Rennen um die Führung der Regierung. Die beiden Männer sind Gegensätze, wie sie die Politik kaum eines anderen Landes der Welt kennt, und beide sind japanische Politiker und verkörpern in ihrer Gegen-sätzigkeit die Kontinuität der japanischen Politik, der führenden Schichten in der japanischen Politik und des Regierens in Japan. Sato ist ein überkultivierter, vorsichtiger und eleganter Politiker aus dem engen Kreis der besten Familien, der Bruder des früheren Ministerpräsidenten Kishi, und der Schützling des größten Konservativen und Demokraten Ostasiens. Kono, Minister für öffentliche Bauten, ist eine brutale Konzentration von Schlauheit, Kraft, Gewalt.

KONO GIBT NICHT GERNE Interviews, auf keinen Fall ausländischen Journalisten. Alle Verbindungen versagten, bis ich bei den Begräbnisfeierlichkeiten für Riki Dosan die richtigen Drähte in die Hände bekam. Die Begräbnisfeierlichkeiten waren das große Fest und ein gesellschaftliches Ereignis Japans im letzten Jahr gewesen. Riki Dosan war das Idol eines großen Teiles der japanischen Jugend, der begehrte Freund vieler Herrn der japanischen Gesellschaft und Politik. Sumokämp-fer, Freistilringer, Barbesitzer, „Protektor“ der Kleinen, Freund der Großen, war von einem Mitglied eines Konkurrenzgangs erstochen worden. Japan traf sich bei seinem Begräbnis, das Japan, das hinter dem Vorhang steht. Etwas verängstigt hielt ich mich an der Peripherie des Leichenzuges, bis ich vom Sog hinter den Leichenwagen gezogen wurde. Die Herren um mich waren in Schwarz, wie in einer japanischen Dreigroschenoper, und sie gingen zuerst sehr feierlich. In die Feierlichkeit des getragenen Gehens brach später ganz leicht und nur angedeutet ein Rhythmus ein, von beängstigender Intensität. Hunderttausend Japaner tanzen in diesem Rhythmus bei Shintofeiern hinter den heiligen Schreinen durch die Straßen. Kommunisten demonstrieren in diesem Rhythmus unter roten Fahnen. Aber die Herren um mich brachen den Tanzschritt ab, bevor er in die Besessenheit der Shinto-prozession, in die Hysterie der politischen Demonstration ausartete, und schritten bedachtsam unter einer Wolke aus Weihrauch und Parfüm. Riki Dosan wurde zu Grabe getragen durch ein Spalier aus ekstatischen Teenagern, und ich fand meinen Weg zu Minister Kono.

Im Vorzimmer des Ministers glaubte ich dann die Herren in Schwarz von der Leichenfeier für Riki Dosan zu erkennen. Der Minister ist von anderem Kaliber; schwerer als die Trauergäste, in sich geschlossen und souverän. Was Kono sagte, ist ganz unwesentlich. Er hielt die Begrenzungen des Handels mit kommunistischen Ländern für Anachronismen in einer Zeit des allgemeinen politischen Tauwetters; das kommunistische China werde seinen Kommunismus entschärfen, wenn es genug Waren kaufen kann, besonders von Japan. Wie er es sagte, war dagegen wesentlich, wofür er stand und wofür er steht: ein Gewaltmensch, den die Politiker fürchten. Aber der Mann auf der Straße glaubt, nicht viel von ihm fürchten zu müssen und ist eher bereit, auf den Gewaltmenschen zu hoffen. Ein Politiker, der aus der Fischerei kommt und von allen Fischern Japans, kleinen Matrosen auf stinkenden Fischkuttern und den Kapitänen der Fischereiindustrie angebetet wird; ein Staatsmann, der den Weg nach Moskau und nach Peking sucht, weil er Moskau und Peking als Werkzeuge seiner Politik und der Größe Japans verwenden will. Kono hat das Bauen für die Olympiade in Tokio zu einer Mobilisierung des neuen japanischen Selbstbewußtseins gemacht. Über dem Bauplatz des Olympiadegigantismus zeichnet sich das Gesicht eines Führers des japanischen Nationalismus ab.

ICH MUSSTE WEIT AUSSTREUNEN und tief unter die Schichten der Prosperität graben, die Slums finden und die Vergnügungszentren der Taglöhner, bis ich von Vorbereitungen zur Olympiade nur mehr den Lärm der pneumatischen Hämmer in der Ferne hörte. Ich kam in das Vergnügungszentrum Asaksa und ich kam sehr weit — in den Slum Sania. Sania ist dort, wo die Stadt zu Ende geht und keinen Anfang mehr hat. Sania ist der Riesenslum von Tokio, und in Sania ist alles, das sich setzte und im Satz versank auf dem Weg vom alten Tokio zum Tokio Prosperität. Ich mußte zweimal ansetzen, um nach Sania zu kommen. Ein linksradikaler Journalist wollte mir das Elend zeigen, das japanische „Kapitalisten“ und „amerikanische Imperialisten“ in Tokio angehäuft hatten. Als ich sagte, daß ich nach Sania wollte, ließ er mich stehen. Zwei handfeste Sportjournalisten versprachen dann, mich auf meinem Weg nach Sania zu begleiten, aber sie führten mich auf die Polizeistation und muteten mir zu, von zwei Polizisten flankiert, eine Art Touristentour durch Sania zu unternehmen. Ich gehe nicht gerne zwischen zwei Polizisten. So tastete ich mich allein der Straßenbeleuchtung entlang, die immer schütterer wurde und schließlich aufhörte, wo Sania begann.

Warum waren meine Freunde so vorsichtig gewesen, so ängstlich? In der Dunkelheit der Slums spürte ich kaum Gefahr, nur Einsamkeit und eine unvorstellbar große Entfernung von Tokio. Ich ging durch die Straßen von Sania, bis es Früh wurde. Ich spürte keine Gefahr, und ich sah eigentlich auch kein Elend, nur Menschen, Spelunken, Asyle, die miteinander und mit Tokio nichts zu tun haben wollen. Über 20.000 Menschen leben in den kleinen Hotels, die in engen Gassen stehen und eigentlich Nachtasyle an Rinnsalen sind. Sie zahlen für die Nacht 10 Yen, die Reichen für ein Bett mit Leintuch 50 Yen. Und sie vermeiden es, wenn es geht, öfter als eine Woche im selben Bett zu schlafen und dort zu wohnen, wo sie übernachten. Ich sprach mit den Mensehen von Sania; Biertippier, Tag-löhner, verlorene Soldaten und Offiziere der kaiserlichen Armee, verkommene Studenten und Intellektuelle. Einzelgänger und Einzelgängerfamilien, und Huren, die froh sind, daß es in Sania keine Laternen gibt. Das waren nicht Arbeiter und nur wenige Arbeitslose, sondern Rückzügler. die von der Prosperität in dieses Rückzugsgebiet geflohen waren

AUF DER SUCHE NACH ARBEITSKRAFT, die in Tokio fehlt wie in Wien, sind die Baufirmen bis Sania gekommen; nicht sehr erfolgreich. Um 6 Uhr morgens gehen einige Hundert Saniabürger auf den Ausfallsstraßen von Sania und warten auf die Transportfahrzeuge der Bauunternehmer. Das sind die letzten, denen in der vergangenen Nacht die 10 Yen für die Pritsche im Nachtasyl, die 100 Yen für etwas Reisschnaps ausgegangen sind. Ein Tag an der Baustelle bringt dann wieder Yen für eine halbe Woche Nachtasyl, Reis und Reisschnaps. Als ich mich in die Schlange der Wartenden stellte, wunderte sich niemand, denn keiner in Sania wundert sich über den anderen. In der Sakebar von Sania hatte ich am Abend einen getroffen, der sich nach längerem Hinsehen als Europäer entpuppte. Woher, warum, wann er gekommen war, wer sollte es wissen? In der Schlange, die auf Arbeit wartete, rührten sich nur wenige, als zwei Lastautos von Bauunternehmern kamen. Die meisten warteten auf Baufirmen, die klug genug und so sehr knapp an Arbeitern waren, daß sie Taxi schickten, oder zumindest Kleinbusse. Von der Prosperität und dem Arbeitermangel hat man auch in Sania schon gehört. Noch leichteres Geld bringt das Blutspenden. Es gab aber zu viele Menschen in Sania, die sich ihr Blut zu oft abzapfen ließen, so daß es dünn wurde, „gelbes Blut“, und es gab zuviel schlechtes und krankes Blut. Die Spitäler gaben Blutzertifikate heraus, in denen der Gesundheitszustand vermerkt war, und das Datum der letzten Abnahme. Um diese Blutzertifikate bildete sich ein Blutmarkt, ein Zertifikat kostete den Betrag von drei Übernachtungen, und es floß wieder „gelbes Blut“ aus Sania in die Blutkonserven.

DIE ABFLUSSRINNEN VON SANIA verlaufen in Vergnügungsgassen, die Reihen der Hotels brechen ab und die Spelunken sind nicht mehr. Strip-tease-Lokale mit Vier-undzwanzigstundenbetrieb, Eintritt kostet 50 Yen und die Menschen stehen so dicht beisammen, daß die Tänzerinnen von der Bühne weg auf die Köpfe der Zuschauer steigen können. Mitten drin ein Supermarket, in dem man um 11 Uhr nachts Schuhbänder und Kinderwagen, Orangen und getragene Wäsche kaufen kann. In Asaksa sah ich, wie ein Blues in einem Teenagerlokal zu einem Trauertanz um einen verwundeten Zuhälter wurde. Als ich in das Lokal gekommen war, war viel Unruhe und man wußte, daß dieser Abend etwas bringen werde. Der Abend brachte ziemlich bald mehr, als man erwartet hatte. Ein Mädchen, sehr schlank, sehr dunkel und sehr in sich geschlossen, kam herein und rannte den Hals einer zerbrochenen Bierflasche in den Leib seines Freundes, der mit einer anderen getanzt hatte. Der junge Mann sank zusammen. Die Polizei führte das Mädchen ab. Der Verletzte lag noch mitten im Saal und die Polizisten versuchten, den Tanz abzubrechen. Ein Kriminalbeamter schlug die Musicbox ein, doch sie spielte weiter. Die Mädchen heulten im Rhythmus. Sie tanzten Blues ohne Unterbrechung bis fünf Uhr morgens.

Tokio ist keine Stadt, vielleicht ist sie der Vorort zur Hölle, faszinierend und groß.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung