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Die Kirschblüte blüht nicht mehr so weiß

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DIE KATZE STARB langsam, aber beharrlich. Jemand hatte ihr eine Schale Milch vor die Schnauze gestellt. Sie hätte den Kopf noch heben können, um zu trinken, aber sie wendete ihn ab. Die Straßenkehrer schienen Respekt vor der sterbenden Katze zu haben, und die berufsmäßigen Katzenfänger kamen nicht in den San-Bancho-Distrikt am Rande der kaiserlichen Gärten. Die Kirschblüte begann langsam aufzugehen auf den Bäumen im Burggraben. Dann wanderte sie weiter, und die Knospen öffneten sich auf den Bäumen entlang des Weges, auf dem die Katze lag. Schmutziggraue Blütenblätter fielen auf die Katze und schwammen auf der Milch, die dick und sauer geworden war.

Die Kirschblüte in Japan dauert nur kurze Zeit. Wie Eintagsfliegen sterben die Blüten meist schon am Abend des Tages, an dessen Morgen sie aufgegangen sind. Im ganzen Land aber dauert die Kirschblüte Wochen, fast zwei Monate, denn sie wandert von den Tälern in die Berge, vom Süden nach dem Norden. Wo die Kirschblüte ist, ist der Boden mit Blütenblättern bedeckt. Die Kirschblütenfeste werden weniger unter den schütter blühenden Bäumen gehalten, denn auf dicken Teppichen aus verwelkenden Blüten. Auf dem Teppich aus schmutziggrauen Blütenblättern entlang des kaiserlichen Burggrabens lagen Konservendosen, Papierflaschen, Coca-Cola-Flaschen, Koreandoli.

Als die ersten Blüten aufgegangen waren, hatten die Wandeirhändler ihre Buden aufgestellt. Das Kirschblütenfest begann. Vielköpfige Familien und Studentengruppen zogen in den kleinen Straßenpark gegenüber den kaiserlichen Gärten^ lagerten dort, tanzten, aßen, fischten Goldfische'und' Schleierschwänze aus Bottichen und waren am Abend von der Mischung aus Bier, japanischem Whisky und Sake betrunken.

Die Katze lag am nächsten Morgen noch immer dort und starb. Sie bestand nur noch aus Knochen und räudigem Fell, und sie ließ sich in ihrem letzten Geschäft, ruhig zu sterben, nicht stören. Nur ihr Blick wanderte über die Konservenbüchsen, Coca-Cola-, Bier-, und Sakeflaschen zum Bottich, in dem die wenigen Schleierschwänze und Goldfische, die nach dem Fest übriggeblieben waren, dieser Art des Überlebens müde zu sein schienen.

Der kleine Parkweg im San-Bancho-Distrikt liegt zwischen dem kaiserlichen Burggraben und einer breiten Verkehrsstraße. Die Kirschblüte war über Nacht gekommen und in achtundvierzig Stunden vorüber. Das Fest war lustig gewesen wie eine Hochzeit auf der Gstetten zwischen Brettldörfern und im Obdachlosenasyl. Auf den Blütenblättern lag Öl und Staub, kaum daß sie zu sprießen begonnen hatten. Der Mann, der die Mietboote aus dem Schuppen zerrte und in das Wasser im Burggraben setzte, sagte: „Die Kirschblüte blüht nicht mehr so weiß“.

„DIE KIRSCHBLÜTE BLÜHT nicht mehr so weiß“, sagte man mir auch auf dem Land, wo auf schlechten Straßen ölige Autos durch Dörfer fahren, aus denen mit dem japanischen Wirtschaftswunder das Elend aus- und mit dem Sog nach den Städten die Leere eingezogen ist. Vor Jahren war hier das Leben unvorstellbar hart gewesen. In jedem Dorf konnte man sich an den Knöpfen abzählen, was gerade am schwersten auf den Menschen lastete: Hunger, Unterdrückung durch einen Grundherrn, die Hand der Polizei, die Arroganz der Bürokratie. Aber die Kirschblütenfeste waren weiß und glänzend, und die Blüten waren immer so rein gewesen, daß der besten Wäscherin im Dorf als Preis für ihren Dienst Blütenblätter über ihre Bettwäsche gestreut wurden. Die Kirschblüten waren sogar noch weich und glänzend oder rosa und zart, als die Männer im Krieg waren.

Jetzt hat die Bodenreform die Landherrn vertrieben. Die Polizei ist eingeschüchtert. Die Hungermonate vor den Ernten existieren nur mehr in den pessimistischen Erwartungen der Bauern.

Daß der Hunger aus dem Dorf ausgezogen ist, heißt aber nicht, daß die Arbeit leichter wurde. Die Jungen fliehen nach wie vor vom Dorf in die Stadt. In dem Land, in dessen Städte die Menschen zu einer kompakten Masse zusammenzuschmelzen scheinen, werden entlegene Dörfer so leer, daß die Kischblütenfeste wie Sonntagspromenaden in Kurorten werden, in denen die Quellen versickert sind.

Die Kirschblüten „leben“ nur für das Frühjahr und für die Feste der Städte und Dörfer, denn die Millionen Kirschbäume in Japan tragen keine einzige Kirsche. Aber der weiße Glanz der Kirschblüte erträgt es nicht, von Lichtreklamen überflutet, von Öl und Staubschichten bedeckt, übersehen und zur Touristenattraktion zu werden. Zwischen ambulanten Whisky-Bars, Coca-Cola-Ständen und Verkehrsstraßen ist die Kirschblüte grau und unscheinbar geworden.

ES GIBT DÖRFER in den Bergen, in denen nur mehr alte Menschen leben und Kretins, die von denen, die in die Städte gezogen sind, zurückgelassen wurden. Die Kirschblüte in den Dörfern auf den Bergen ist die späteste in Japan. Aber die Blüten waren immer die farbigsten und die klarsten. In einem Dorf auf Hokkaido sah ich drei Buden aufgestellt. Greise, Kretins und nur eine Handvoll jüngerer Mensche,., die zum Pflichtbesuch gekommen waren, tranken auf dem Boden, der noch kalt und feucht war, billigen Reiswein und tanzten um die Bäume, deren Blüten staubig aussahen, obwohl keine Straße an dem Dorf vorbeiführt und keine Autos in diese Höhe kommen. Das Dorf liegt 1300 Meter hoch über dem Meer. Nach dem ersten Tag der Kirschblüte waren die jungen Menschen wieder in die Stadt zurückgekehrt. Im Dorf feierten nur noch die Hunde. Die Greise und die Kretins dösten in den dunklen Holzhütten zwischen den Haustieren und dem Herd vor sich hin.

In diesem Dorf gibt es eine große Sorge: Die Alten wissen nicht, was aus den Kretins werden soll, wenn sie selbst gestorben sind. Von den Jungen, die in die Städte gezogen sind, wird keiner zurückkommen in das Dorf, und sie werden die Kretins vergessen.

IN DER NACHT vor der Kirschblüte wollte die Alte in dem Haus, das neben der Hütte lag, in der ich zu Gast war, dieses Problem auf ihre Art lösen.

Sie war alt und ihr Enkel war stark und gesund, nur völlig hilflos. Der Weg zum Fischerhafen im Tal ist sehr steil. Im unteren Teil führt er am Steinbruch vorbei und man muß auch an einem trockenen Tag vorsichtig sein, wenn man zum Fischerhafen absteigt.

Die Alte beschloß abzusteigen, als es Nacht war und noch ein Schleier aus feuchtem Eis über der Erde und dem Gras lag. Und sie beschloß, den Enkel mitzunehmen.

Ehe sie aufbrach, warf sie dem Hund alte Fische zu. Wenn ich sterbe, dachte sie, wird man die Tiere aus dem Haus nehmen und schlachten oder weiterfüttern. Aber den Jungen wird man im Haus lassen. Erst werden die Nachbarn ihm jeden Tag eine Schüssel mit Abfällen bringen. Später werden sie an manchen Tagen vergessen, daß er noch lebt. Dann wird er beginnen, vielleicht etwas verwundert, langsam zu verhungern. (Ich dachte an die Katze vor dem San-Bancho-Park, als die Alte nach dem Kirschblütenfest mir ihre Geschichte erzählte.) Die Sorge, daß sie vor ihm sterben werde, war unerträglich geworden, und so beschloß sie, mit dem Hilflosen den Abstieg über den glatten Grasweg entlang des Steinbruchs in der Nacht zu unternehmen.

Er stolperte ihr nach, und weil in der Dunkelheit alles unbekannt war, begann er zu schwitzen. Sie konnte sein Keuchen hören, und am Steilhang wußte sie, wie er oben seinen plumpen Körper gegen das nasse Gras preßte. Sie wußte, daß sie ihm jetzt nicht zu Hilfe kommen durfte. Dann hielt sie es nicht mehr aus und tastete sich auf der glatten Wiese wieder nach oben zu ihm. Als sie ihre Hand hob, um seinen Fuß zu stützen, verlor sie den Halt.

Der Junge hörte, wie ihr Körper auf dem Boden unter dem Steilhang aufschlug. Und er spürte das Gras, an das er sich gepreßt hielt, plötzlich so hart und scharf, wie er noch nie etwas gespürt hatte. Vorsichtig und langsam kroch er entlang der Graswand in die Richtung, wo er plötzlich wußte, daß der richtige Steig lag. Er handelte sich von Kiefer zu Kiefer zum Steinbruch, dann stieg er langsam durch die Felsen ab. Er spürte auch keine Angst, als seine Hände zu suchen begannen. Er fand die Alte. Sie lebte noch, denn sie zitterte vor Kälte. Er schob seinen schweren Körper über sie, um sie zu wärmen. Sie hörte zu zittern auf. Sie schien sich ruhig und geborgen zu fühlen, und sie schliefen ein.

Als sie erwachten, war beiden wieder kalt. Er war sehr stark. Von der Klarheit der vergangenen Nacht war noch soviel übrig, daß er wußte, wie er seine Stärke anwenden mußte. Am Weg zur Hütte kam die alte Hilflosigkeit wieder. Als sie in die Hütte kamen, konnte er die Alte noch zu ihrem Platz auf der Matte führen. Aber das Halstuch konnte er nicht mehr öffnen. Angezogen legte er sich auf die Matte.

„Es ist gut, daß ich nicht schwer verletzt bin“, sagte die Alte, die sich glücklicherweise nur den Fuß gebrochen hatte. „Ich kann ihn zum Kirschblütenfest führen, und ich werde ihm am Abend Essen geben können.“

ALS DIE KIRSCHBLÜTE zu Ende ging, war ich in Osaka. Im Slum von Kamagasaki waren Unruhen ausgebrochen, weil die Preise anzogen und eine Schüssel Reis in der Kantine Kori von 20 auf 24 Yen gestiegen war (1.50 Schilling auf 1.80 Schilling). Die Schinder, Taglöhner und zweifelhafte Gestalten von Kamagasaki hatten sich zuerst mit der Polizei und dann gegenseitig geprügelt. Dabei waren die Tore aus bunten Girlanden, die Lampions und die Verkaufsbuden in Stücke gegangen, die zum Kirschblütenfest am Misumi-Park aufgestellt worden waren.

In der Schnapsschank trinkt man dort nicht teuren Reisschnaps, sondern billigen Wein aus Süßkartoffel. „Die Raufereien sind schlecht für mein Geschäft“, räsonierte ein Schinder an der Theke. „Die Tiere werden von den Straßen vertrieben und ich kann sie nicht fangen. Jetzt werde ich schlafen gehen und habe heute nicht einen Hund gefangen. Wenn ich nachts schlafen will, muß ich trinken, denn manche Tiere schreien lange, bevor sie sterben, und ich höre sie noch schreien, wenn ich auf der Matte liege.“

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