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Der Sprung aufs Festland

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TAIPEH IST DIE HAUPTSTADT von Taiwan. Vor drei Jahren war Taipeh eine Frontstadt. Der Flughafen, ein Militärflugplatz, zeitweise für Zivilflugzeuge freigegeben. Das Straßenbild war von Jeeps beherrsch1:. Die Menschen trugen Uniformen, und wenn sie Zivil trugen, war es Khaki und sie hatten die Ärmel aufgerollt. Die Front verlief nicht um Taipeh. Es gab keine wirkliche Front, wenn man nicht das an jedem ungeraden Tag von kommunistischen Bomben berieselte Quemoy als Front ansehen wollte. Aber im Bewußtsein der Menschen gab es eine Front. Der Kriegszustand zwischen Nationalchina auf Formosa und dem kommunistischen Festland war schon zehn Jahre alt, und das schal gewordene Frontbewußtsein hatte sich wie Staub auf der Stadt abgelagert. Doch als ich 1956 wiederkam, war der Staub fast weggefegt. Ich landete auf einem funkelnagelneuen Flughafen, auf dem sich einige Militärmaschinen verschämt in eine Ecke verdrückt hatten. Vor dem Flughafen standen nur wenige Jeeps und viele grellrote Nissan-Taxis, die in Formosa nach japanischer Lizenz gebaut werden. Auf der Fahrt vom Flughafen in die Stadt sah ich bald, daß Taipeh eine Skyline bekommen hatte, Hochhäuser und Stahlgerüste, die Hochhäuser werden. Hotels schießen in den Himmel, die im Oktober fertig sein sollen, um die Gäste aufzunehmen, die auf dem Weg zu oder von der Olympiade Formosa besuchen: „The most restfull place to overcome the strain of the olympic games“, verkündet eine Hotelreklame. Ferien im Pazifik, man braucht nicht einmal ein Visum, wenn der Aufenthalt kurz Ist. In die Stadt ist die Konjunktur eingesickert und hat den Staub des angeschimmelten Krieges fortgeblasen. Doch der Krieg ist noch da. Man findet den alten Kriegszustand, wenn man nur ein wenig an der Oberfläche schabt. Nachts, unter den wildesten Lichtreklamen, die ich jemals auf der Welt gesehen habe, erwarten die Menschen das Dunkel nach der Fliegerwarnung.

ICH BESUCHTE MEINE FREUNDE in den Büros, Redaktionen und Werkstätten. Sie standen auf und zogen ihre Röcke an, obwohl es über vierzig Grad im Schatten hatte. Früher hatten sie keine Sakkos, wenn der Abend kühl war, holten sie ihre Militär Jacken aus dem Quartier. Doch sie haben damals vom Krieg gesprochen, und sie sprachen vom Krieg, als ich sie vor kurzem besuchte. Es gibt einige Städte auf der Welt, die wie Taipeh über einem eingerosteten Krieg aufblühen: Ber Scheba in Negev etwa, Abar in Mauretanien und andere. Die Fassade der Prosperität ist dort durchsichtig und man sieht dahinter in scharfen Konturen den Krieg, der In der Luft liegt und den man erwartet. Formosa lebt in einer Spannung, die keinen Quadratmeter ausläßt. Taipeh ist in, den letzten Jahren um vierhunderttausend Menschen gewachsen und eine Großstadt von einer Million Einwohnern geworden. Aus der Vergangenheit sind die Rikschas zu einer Fremdenverkehrssensation geworden, wie bei uns die Fiaker. Und in den Slums, die die neu Angekommenen aufsaugen, gibt es fast so viel bestens ausstaffierte Freßstände wie wackelige Häuser. Motorräder stehen in den schäbigen Höfen, und die Kinder betteln längst nicht mehr. Doch die Million Menschen in dieser Stadt spürt unter den Füßen die Unsicherheit und weiß, daß diese Konjunktur vielleicht nichts anderes ist, als eine Kriegspause. Die Unlös-barkeit des China-Problems ist für jeden von ihnen eine sehr persönliche Angelegenheit.

WICHTIGER ALS DIE VERÄNDERUNGEN im Straßenbild Tai-pehs ist eine Veränderung in der Bevölkerung. Vor sechs Jahren merkte ich noch ganz deutlich, daß es auf Formosa zwei Nationalitäten gibt: die Taiwanesen und die Festlandchinesen. Sie standen sich damals nicht mehr so feindselig gegenüber. Aber es war eine Kluft zwischen ihnen und es war kaum zu erwarten, daß es Tschiangkaischek gelingen könnte, die Kluft aufzuschütten. 1949 waren zwei Millionen Festlandchinesen unter der Führung der Kuomintang und dem Kommando von Tschiangkaischeks Generalen auf der Flucht vor den chinesischen Kommunisten nach Formosa gekommen. Sie hatten übles Erbe mitgebracht, auf eine Insel, deren Volk schon 1947 einen blutigen und erfolglosen Aufstand gegen die korrupten Statthalter der Zentralregierung, die damals noch in Peking war, unternommen hatte. Für die neun Millionen Taiwanesen war Tschiangkaischeks Armee eine Okkupationsarmee, verhaßter als die japanischen Kolonialherren der Kriegszeit und der Vorkriegszeit. Für Tschiangkaischek mußte diese Situation auf die Dauer unhaltbar sein; die Insel, auf der er die nationalchinesische Regierung aufrichtete, wollte von seinem Natiorialchina nichts wissen. Die Insel, von der aus Tschiangkaischek Rotchina befreien wollte, sehnte sich danach, von Tschiangkaischek befreit zu werden. Langsam gelang es ihm schließlich, dem Haß der Taiwanesen gegen sein Regime und gegen die Leute, die mit ihm gekommen waren, die Schärfe zu nehmen. Doch die Spannung blieb. Nationalchina und die nationalchinesische Armee waren eine Sache, Taiwan und die Taiwanesen waren eine andere Sache. Es gab keine Ehen zwischen Menschen vom Festland und Menschen aus Taiwan. In den Städten und den Dörfern gab es Wohnviertel der Festlandchinesen und Wohnviertel der Taiwanesen. Die Taiwanesen beharrten auf ihrem Fuiken-Chinesisch, die vom Festland gekommen waren, sprachen da-

gegen Mandarin, das zur Amtssprache erhoben worden war. Die Taiwanesen wollten mit Nationalchina nichts zu tun haben, noch weniger mit den Zielen Tschiangkai-scheks, nämlich der Befreiung des Festlandes von den Kommunisten. Diese Situation, in der der Haß erloschen war, aber die Fremdheit blieb, spürte ich, als ich 1955 zum erstenmal in Formosa war. Jetzt ist auch die Fremdheit fast überwunden, die Grenzen zwischen den Wohnungsvierteln haben sich gelockert, festlandchinesische und tai-wanesische Familien sind verschwägert.

DIESE WANDLUNG SPÜRTE und erkannte ich, als ich anfangs 1964 in Formosa war. Sie ist nicht das Resultat der Begeisterung der Taiwanesen für den Kampf gegen die Kommunisten, sondern ganz einfach einer Bodenreform, die nicht nur für Asien beispielhaft war. Diese Bodenreform hat Millionen Taiwanesen aus Taglöhnern und Pächtern zu Bauern auf eigenem Grund gemacht. Da der Boden, den sie bekamen, vom Regime Tschiangkaischeks kam und sie fürchten, ihn zu verlieren, wenn die Kommunisten kommen, oder die früheren Besitzer, wurden sie zu Stützen des Regimes. Seine Feinde auf der Insel sind nun neben den Kommunisten die früheren Grundbesitzer, meistens auch die Kollaborateure der japanischen Kolonialpolitik.

ZUERST WURDE DAS LAND den Pächtern und Landarbeitern als Eigentum gegeben, das der Regierung gehörte. Die neuen Landeigentümer mußten den Wert, der ungefähr einer Jahresernte entsprach, in zehn Jahresraten der Regierung zurückzahlen. Diese Großzügigkeit kann der Regierung nicht schwergefallen sein, denn es war Land, das den Japanern abgenommen worden war. Der Anfang der Bodenreform war nicht sehr vielversprechend und änderte nichts an der Stimmung und an der Spannung in Formosa. Doch nach zwei Jahren kam der zweite Schritt. Der Pachtzins wurde mit 33 Prozent festgesetzt. Bisher hatte er zwischen 40 und 70 Prozent betragen. Nach weiteren zwei Jahren kam Stufe III: Jeder Besitz über drei Hektar mußte der Regierung abgetreten werden. Der Besitzer erhielt 250 Prozent des Schätzwertes von 1949, doch der größte Teil der Kompensation bestand aus Wertpapieren, Aktien der Industrien, die der Staat gerade zu entwickeln begann. Die Regierung gab den Boden sofort den Pächtern und Taglöhnern als Eigentum, die den Wert des Bodens in Zehn-Jahres-Raten abstatten mußten.

90 Prozent der Bauernfamilien Taiwans wurden Grundbesitzer. Auf jedes Mitglied einer Bauernfamilie kommt ein Jahreseinkommen von 110 Dollar. Und das Einkommen steigt von Jahr zu Jahr. Die Bauern sind in Genossenschaften zusammengeschlossen und wählen die Genossenschafts- und Kreisführung. Das ist die einzige demokratische Institution in Formosa. Aber die ist wirklich demokratisch. Fast jedes Dorf, durch das ich fuhr, hatte eine genossenschaftliche Anlage zur Raffinierung von Reis. In den größeren Ortschaften sah ich Zentralver-teilungsstationen von Traktoren und anderen wirtschaftlichen Maschinen. Nirgends in Asien sah ich selbstbewußtere Bauern als in Formosa. Die Bodenreform hat den FormösaSeparatismus zur Klassenfrage gemacht: die neuen Besitzer des Bodens sehen Tschiangkaischek und die Kuomitang als Bürgen ihres Besitzes an. Sie wollen den Boden, ihren Boden, weder für kommunistische Volkskommunen ab-, noch den früheren Herren zurückgeben. Die früheren Großgrundbesitzer sind ihrer neuen Position als Aktienbesitzer nicht sonderlich froh und sammeln sich in den kleineren, zu-

rückgebliebenen Städten unter der Fahne eines Formosaseparatismus, eines „unabhängigen Formosa“. *

DIE WUNDEN VON 1947 und 1949 sind nun fast verheilt. Doch außer der Spannung, die mit dem Krieg zusammenhängt, merkt man in Formosa auch andere Spannungen: Die alte Bürokratie der Kuomitang beherrscht die Büros, die Administration. Aber aus den Reihen der nationalchinesischen Armee wuchs eine junge Generation, die sich anschickte, die Kalkschale der alten Kuomintang zu sprengen. Eine Art „jungtürkischer Bewegung“ der jungen Generale und der Obersten beherrscht die nationalchinesische Armee. Diese Offiziere haben junge Intellektuelle um sich geschart und bestehen darauf, morgen auch die nationalchinesische Politik zu bestimmen. Diese „Jungtürken“ standen früher in einem illegalen, losen Zusammenhang. Nun hat sich Tschiangkaischeks älterer Sohn, Tschiangtschingkuo, an die Spitze der „Jungtürken“ gestellt, und sie damit legalisiert. Ich sprach mit Dutzenden junger Obersten. Sie alle glühten bei dem Gedanken an die „Befreiung“ des kommunistischen Festlandes. Sie sind ungestümer in ihrem Tatendrang, als die alten Kuomintang-Bürokraten. Doch sie sahen: wenn wir hinübergehen, nehmen wir „IMBO“, den Generalissimus Tschiangkaischek, mit, als Symbol. Doch die alten Herren von der Kuomitang bleiben hier. Sie haben ihre Schuldigkeit getan, und sie haben uns zuviel eingebrockt. Wenn Formosa eine Bodenreform hinter sich hat und keine feudale Korruptionsinsel mehr ist, so mußte dies den alten Bürokraten Schritt um Schritt abgetrotzt werden. Sind wir einmal drüben, so finden wir unsere Mitarbeiter auf dem Festland: unter den Menschen, die uns treu blieben, aber auch unter den Kommunisten, die ihren Kommunismus einst ernst meinten. Unter diesen jungen Obersten ' und Generalen gibt es alle Schattierungen, von einer Art christlichem Sozialismus, bis zu einer Art Nationalbolschewismus. Aus ihren Reihen werden die Kommandanten der Partisanentruppen bestimmt, die von Matsu aus auf das kommunistische Festland infiltriert werden, mit dem Befehl „Kommt nicht zurück. Bleibt drüben, bis wir nachkommen.“ Wer ist der Führer der „Jungtürken“? Niemand kann das mit Sicherheit sagen. Nicht einmal die jungen Obersten und Generale.

ICH WAR IN TAIPEH, als de Gaulle das kommunistische Regime in Peking anerkannte. Der Schlag traf die Nationalchinesen hart, denn sie hatten im französischen Präsidenten ihren verläßlichsten Freund gesehen. De Gaulles neue Chinapolitik stärkte die Koketterie mit dem tragischen Heldentum in Formosa. Man hatte dort seit Jahren mit einer Version des tragischen Heldentums gespielt. Man fühlte sich von Amerika nur zögernd unterstützt, von Japan längst verkauft, vom Westen aufgegeben. Je stärker dieses Gefühl wurde, desto bestimmter sprach man von einer Invasion des Festlandes, von der Befreiung Chinas. Als De Gaulles Beschluß bekannt wurde, war die Reaktion in Formosa sehr verhalten. Doch von der Invasion sprach man entschlossen wie nie vorher. Und es waren Leute, denen man einiges zutrauen konnte.

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