6710585-1964_18_20.jpg
Digital In Arbeit

Vergib nicht, du bist in Chu!

Werbung
Werbung
Werbung

QUEMOI STEHT vor Formosa. Wer in Quemoi war, weiß, wofür Formosa steht. Ich stieg auf die höchste Erhebung von Quemoi und sah dort einen Stein, in den vier chinesische Schriftzeichen eingehauen sind: „Vergiß nicht, du bist in Chu!“ Die Stadt Chu war im 12. Jahrhundert alles, was von China geblieben war. Sonst war ganz China von den Mongolen überschwemmt und besetzt. Von der Stadt Chu aus wurde China wieder erobert.

Die vier Schriftzeichen sind auch Erinnerung an die Chinesen auf Quemoi, die unter dem Bombenhagel starben, den die Kommunisten vom Festland herüberschiekten. Zweimal versuchten die Rotchinesen, vom Festland her Quemoi zu besetzen, diese kleine, Formosa vorgelagerte Insel: am 25. Oktober 1949 und am 26. Juli 1950. Am 23. August 1958 begann das schwere Bombardement von Quemoi. 44 Tage lang wurden über 10.000 Salven im Tag von den Rotchinesen am Festland abgefeuert. Der Boden auf Quemoi war wie ein Sieb. Doch die Invasion der Insel blieb aus. Am 6. Oktober stellten die Kommunisten das Feuer ein. Noch einmal brach es los, am 20. Oktober 1958. als der amerikanische Staatssekretär für Außenpolitik, Dulles, auf dem Weg nach Tschiangkaischeks Hauptstadt, Taiwan, auf Formosa war. Dann begann dieses eigenartige symbolische Bombardement Quemois, das an allen geraden Tagen aussetzte und an allen ungeraden Tagen wieder aufgenommen wurde. Man kann sich daran gewöhnen, an jedem zweiten Tag Bomben zu erwarten. Quemoi ist das Beispiel. Ein Land kann aufblühen unter der ständigen Drohung der Invasion und unter der Gewißheit des Bombardements an jedem zweiten Tag. Quemoi ist das Beispiel. Einigen kostete diese Gewohnheit das Leben. Für sie steht der Stein in Quemoi: „Vergiß nicht, du . .“ Ähnlich wie: „Wanderer, kommst du nach Sparta ...“

HEROISMUS IST SCHEUSSLICH, wenn es falscher Heroismus ist. Heroismus kann politisch zu Katastrophen führen, echter und falscher. Doch auf Quemoi ist es fast unterspielter Heroismus. Es wäre falsch und verlogen, würde man anders darüber schreiben. Sogar der Schnaps von Quemoi ist ein heroischer Schnaps: der Kaulean aus Weizen, mit 80 Prozent Alkohol, der die Kehle hinunterfließt wie reines Feuer. „Kampei“, sagten sie mir, wenn sie mir zutranken. 30 Soldaten und Offiziere der chinesischen Armee gaben mir einen Kauleanabschied. Für mich waren das 30 „Kampei“. Auf Quemoi trinkt man heroisch.

Auf der Insel Quemoi leben über 80.000 Menschen. 47.000 Bauern und wahrscheinlich mehr als 40.000 Soldaten. Genau ist es natürlich nicht festzustellen, wieviele Solditen dort leben; denn die Insel Quemoi ist nur zweieinhalb Kilometer von der südlichsten Position des kommunistischen China entfernt, und die Behörden von Quemoi sind nicht darauf versessen, allzu genaue Einzelheiten mitzuteilen. Im Gegenteil: Bevor man von Formosa aus mit einer Militärmascnine nach Quemoi eingeflogen wird, muß man unterschreiben, daß man später keinen Namen eines Menschen auf Quemoi nennt oder veröffentlicht.

Oberst T., Chefredakteur der „Quemoi Daily News“, die in einer Auflage von 10.000 Exemplaren herauskommt, arbeitet mit seiner ganzen Familie in seiner Freizeit am Bau eines Spitals für Pater Druetto. Das Spital ist fast fertig. Oberst T. lebt in einem großen Haus aus weißen Kalkmauern, in dem nichts steht als Betten, Tische und ein Herd. Der junge Oberst ist ein kultivierter Mahn, und fragte ihn, warum er denn diese Wohnung nicht einrichtet, in der er mit Frau und fünf Kindern lebt. „Meine Kinder sollen erst gar nicht auf die Idee kommen, daß sie hier zu Hause sind. Wir sind aus Setschuan, und unser Haus steht dort, mit unseren Möbeln.“ Emigrantenpathos! Aber auf der Insel Quemoi, zweieinhalb Kilometer vom kommunistischen Festland entfernt, gespickt mit schweren Geschützen, unterhöhlt von Verteidigungsanlagen, klingt es anders. Besonders aus dem Mund des jungen Obersten und Journalisten, der zu den „Jungtürken“ in Nationalchina gehört und an der „alten, verkalkten“ Kuomintang auf Formosa fast so viel kritisiert wie am Kommunismus auf dem Festland. Er will zu seinen Möbeln zurück, nach Setschuan, aber nicht in das Kuomintang-Setschuan, das er verließ.

MAN KANN SAGEN, in Quemoi herrsche eine Militärdiktatur, nicht eine einfache, eine doppelte; nicht nur die allgemeine, die Generalissimus Tschiangkaischek, sein Sohn Tschiangchiangkuo und wie immer in einem kriegsführenden Land die Armee ausüben, sondern eine besondere. Quemoi ist militärisches Frontgebiet vor dem Feind. Quemoi steht unter Militärverwaltung, und der kommandierende General, Peng, ist zugleich Gouverneur der Insel. Die Insel Quemoi, die als militärisches Frontgebiet unter doppelter Militärdiktatur steht, ist ein Auslagestück des Lebens in einem geordneten Land geworden.

Es klingt absurd, und ich bin sicher nicht auf Paradoxa aus, wenn ich mich an meine Abende auf Quemoi erinnere und über sie berichte: Unter den Arkaden der Herberge und im voll angeräumten „Wohnzimmer“ des Pater Druetto hatte ich ein Gefühl des Friedens wie in keinem anderen Ort Asiens und kaum in Europa. Quemoi war ein kahles Stück Land gewesen, auf dem es keine Bäume gab, und die Menschen lebten von der Fischerei und von dem, was ihnen ihre Verwandten schickten, die von der Insel weggezogen waren. Dann kam das große Bombardement von 1958, und die schäbigen Holzbuden brachen zusammen oder verbrannten. Die Fischerboote in den kleinen Felsbuchten wurden zerstört. Die Zivilisten wurden von Kriegsschiffen abgeholt und auf die Hauptinsel, Formosa, evakuiert.

Aber sie kamen sofort zurück, als das geordnete Leben begann und die Insel nur an jedem zweiten Tag beschossen wurde. Unter der Führung der Militärverwaltung und zusammen mit den Soldaten bauten sie Quemoi neu auf. Unter der Erde sind die unterirdischen Befestigungsanlagen. Darüber wurde ein dichtes Netz schmaler, aber ausgezeichneter und in gerader Linie verlaufender Betonstraßen gebaut. Auf den Kreuzungspunkten stehen Soldaten mit Maschinengewehr, Verkehrsposten und Wache, denn jeder Lastwagen kann, unter den Piachen verborgen, kommunistische Infiltranten führen. Die Hauptstadt Quemoi wurde neu erbaut, mit einer Geschäftsstraße als Achse, in der man Obst kaufen kann, Fleisch, Kleider, Schweizer Uhren und natürlich Kaulean.

ICH KENNE SEHR GUT DIE Ausdünstung der Angst vor den Besatzungssoldaten, die Spannung zwischen den Soldaten der Besatzungsarmee und den Menschen in einer von ihnen besetzten Stadt; auf der Insel Quemoi und ihrer Hauptstadt, Quemoi, nahm ich keine Spannung wahr. Es gab auch keine Angst auf den Straßen der neuerbauten Orte zu beiden Seiten der Verkehrsadern. Doch es gab Kinos, kleine Restaurants, Eßbuden in ganz erstaunlicher Menge; auf der Insel Quemoi, auf der jeden ungeraden Tag die kommunistischen Bomben platzen und auf der fast genauso viele Zivilisten leben wie Soldaten.

Soldaten, Zivilisten — und Pater Druetto, die Seele der Verteidigung dieser Insel. Ich kann mir gut vorstellen, daß ohne Pater Druetto die Kanonen und die Panzer auf der Insel kaum viel mehr wären als einige tausend Tonnen Eisen und Stahl. Pater Druetto ist sehr sorgfältig darauf bedacht, auf die Behörden in Quemoi keinen politischen Einfluß zu nehmen. Was nützt ihm aber seine Bedachtsamkeit und seine Zurückhaltung, wenn seine Existenz allein schon Einfluß bedeutet? Wir fuhren nachmittags, als es schon dunkel war, zum Haus des Paters. Die Einfriedung wirkte wie ein verrosteter Stacheldrahtverhau, doch sie war kein Stacheldrahtverhau, sondern nur ein völlig zerrissener, verwahrloster, zusammengebrochener Drahteaun. Ähnlich war das Zimmer, in dem Pater Druetto gerade einen Petroleumofen reparierte, den er aus Okinawa geschenkt und geschickt bekommen hatte, und der nicht funktionierte. Das ganze Zimmer stank nach Petroleum und glich einer Rumpelkammer, in der alte Radioapparate, Bestandteile von Röntgenanlagen, Magnetophongeräte, Konserven, Bücher und zwei Hunde herumlagen. Vom Zimmer des Paters sieht man allerdings zuerst nur einen kleinen Teil. Durch einen Vorhang von alten Decken abgetrennt ist der größere Teil des Raumes eine Kirche. Am Abend spannte Pater Druetto vor dem Altartisch eine Leinwand auf, und sein Zimmer wurde zu einem Vorraum, in dem in einem großen Kessel Tee gekocht wurde und ein Kinosaal mit Gebetsbänken als Sitzplätze. Von der Leinwand nicht ganz verdeckt war ein Kruzifix und ein Ewiges Licht davor. Die Gestalt auf dem Kruzifix schaute über die Leinwand hinaus, entweder auf die Soldaten und Patienten, die auf den Gebetsbänken als Kinobesucher saßen, oder auf die Leinwand. *

VIEL GRÖSSER ALS DER RAUM, in dem Pater Druetto wohnt, arbeitet und seine Kirche hat, ist ein Gebäude, das als Seitenflügel dort, steht und als Spital dient. Pater Bernard M. Druetto kommt aus Marseille, er ist seit 1931 in China, seit 1954 in Quemoi. Er spricht chinesisch, englisch, italienisch; französisch spricht er, wie eben französisch in den Slums von Marseille, in denen er geboren wurde, gesprochen wird.

Das meinte ich, als ich schrieb, wer in Quemoi war, weiß, wofür Formosa steht.

Formosa ist drei Flugstunden von Quemoi entfernt; weit in jeder Beziehung. In Formosa merkt man manchmal — doch ziemlich selten —, daß Quemoi dazugehört Dort spielt man mit der gefährlichsten Art des Heroismus, dem tragischen Heroismus.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung