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Fern von Peking

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ICH BIN VON DER STADT TAIPEH in die Berge gefahren. Man hatte mir gesagt, daß er dort wohne. Über der Hauptstadt von Formosa war die feuchte Hitze wie Gaze gelegen. Je weiter man in die Berge fuhr, desto klarer wurde die Luft. In der Talsohle, wo die Residenz Tschiangkaischeks steht, ist sie glasklar, aber die Hitze ist auf dem höchsten Gipfel von Taiwan genau so schwer wie in der Stadt. Der Marschall könne die Feuchtigkeit nicht mehr vertragen, hatte man mir gesagt, aber die Hitze' mache ihm nichts aus.

Auf der Straße waren wir auf den letzten Kilometern keinem Zivilfahrzeug mehr begegnet und keinem Zivilisten. Nur Panzerfahrzeuge aller Jahrgänge kreuzten durch die Gegend, und am Straßenrand standen schwerbewaffnete Posten der chinesischen Nationalarmee. Die Lichtung zwischen Wald und Feldern, auf der die Residenz steht, ist fast menschenleer. Nur einige Affen sitzen auf den Baumwipfeln am Waldesrand und quietschen in die Stille hinein. Der alte Mann liebe die Einsamkeit, hatte man mir gesagt. Und später höre ich es von Tschiangkaischek selbst. — „In China leben so viele Menschen, daß man sich weit von ihnen zurückziehen oder einen hohen Turm besteigen muß, wenn man sie übersehen will. — Oder man muß sehr alt sein.“

AUF DER FAHRT ZUR RESIDENZ des Präsidenten von Nationalchina kamen wir durch viele Dörfer. Die Äcker am Rande der gepflegten Straße waren sauber und sprachen nicht von Armut. In jedem Dorf blieb ich stehen, in den größeren hielt ich mich einige Stunden auf. Es ist gut, wenn man zu einem Präsidenten fährt, vorher mit den Männern am anderen Ende der sozialen Leiter zu sprechen. Ich hatte einen japanischen Journalisten, der chinesisch sprach, als Übersetzer mit mir. Er war von der nationalchinesischen Regierung unabhängig, .und ich traute, ihm deshalb zu, getreu zu “übersetzen. In den Dörfern sprach man vom „alten Mann“, wenn man Tschiangkaischek meinte. Aber man sprach von ihm nicht als von einem fremden Diktator. Obwohl das doch vorstellbar wäre, da es erst elf Jahre her sind, daß der Generalissimus an der Spitze einer Zweimillionenarmee, die 30 Jahre lang nichts als Krieg gekannt hatte, vom Festland auf die Insel Taiwan gekommen war, um sich und sein Regime auf die Schultern der acht Millionen Taiwanesen zu setzen. Aber auf dem Land ist die Wunde sichtlich gut verheilt, die noch vor wenigen Jahren zwischen der Okkupationsarmee und den acht Millionen Taiwanesen verlief. Das Dorf, in das einige demobilisierte Festlandssoldaten eingezogen sind, die Land bekamen, hat die Neuen in seine Einheit aufgenommen und dafür einige seiner eigenen Söhne in die Armee Tschiangkaischeks geschickt, wo sie gefördert werden und Epau-letten bekommen.

Im Dorf spricht man vom alten Mann, wenn man Tschiangkaischek meint — und es ist viel Anerkennung darin, anders als in der Stadt.

Die Bodenreform Tschiangkaischeks war der Balsam, der die Wunde zum Verheilen brachte. Das Land, das jahrhundertelang in den Händen der taiwanesischen Feudalherren gewesen war, wurde den Landarbeitern und Kleinbauern gegeben. Die Feudalherren bekamen als Ablöse Aktien für die vom Staat aufgebaute Industrie. So wurde auf kaltem Weg eine industrielle Revolution vollzogen. Die alten Feudalherren von Taiwan sind nicht zufrieden. Sie fühlten sich als Halbgötter auf dem Land besser denn als Aktionäre. Die neuen Bauern sind sehr zufrieden, und sie sind sehr selbstbewußt. Für sie ist die Bodenreform mit dem Namen des Marschalls verbunden. Der Boden, der nun sein Eigentum ist, hat ihn mit den fremden Herren ausgesöhnt und das taiwanesische Landgebiet aus einem von der Tschiangkaischek-Soldateska besetzten und dem Generalissimus ziemlich feindselig gegenüberstehenden Territorium zu einem Bauernstaat gemacht, auf den der Präsident sich stützen kann.

„Das war mein bester und erfolgreichster politisch “- Zug“, sagte mir der Präsident später. „Aber es ist viel leichter, gute und erfolgreiche Züge auf einer Insel mit zehn Millionen Einwohnern zu machen, als eine Bodenreform auf diesem riesigen, zerrissenen und verwirtschafteten Festland.“

JETZT SASS DER MANN 'MIR GEGENÜBER, auf dessen Schultern seit Jahrzehnten das Schicksal Chinas ruhte. Diese 40 Jahre waren Krieg. Er wirkt sehr alt, aber er wirkt nicht greisenhaft oder müde. Sein Körper ist unwahrscheinlich zart. Man würde ihn für zerbrechlich halten, wüßte man nicht, wie viele Stürme an der Härte dieses Mannes zerbrochen sind. Seine Züge sind angespannt und er schließt die Augen, wenn er, „ganz Konzentration“, sich mit dem Besucher aus Österreich unterhält. Er hat den Kopf eines gütigen Asketen. Nur der gerade Strich, der dort verläuft, wo man den Mund vermutet, spricht von allen Registern zwischen Energie und Grausamkeit, auf denen Tschiangkaischek ein langes Leben lang spielt. Die fein-gliedrigen Finger seiner kalkweißen Hand spielten mit den Sonnenstrahlen, die auf die schwarze Soutane fielen. Die andere Hand streichelte den großen Schäferhund — und das erweckte böse Erinnerungen.

ICH VERSTEHE MICH NICHT AUF ASIATISCHES PRÄLUDIEREN, und ich glaube, der Marschall, der doch sein Soldatenführertum stark betont, liebt es auch nicht. Ich zerreiße die Stille und die Konzentration mit einem direkten Einsatz. — „Glauben Sie, Marschall, heute noch immer, wie Sie es vor zehn Jahren glaubten, daß Ihre Armee aus Taiwan auf dem Festland landen und den Kommunismus aus China vertreiben wird?“

Tschiangkaischek: „Ich weiß, dem Westen erscheint mein Glaube absurd. Die es weniger gut mit uns meinen, halten ihn für die Zwangsvorstellung eines gefährlichen Irren, der sobald wie möglich sterben soll oder in Gewahrsam gebracht werden muß. Die anderen beginnen langsam unseren Glauben als meine persönliche tragische Alterserscheinung anzusehen. — Verhält-nismäßig ungefährlich, wenn man den Alten unter Kontrolle hält. Und dann und wann politisch ganz opportun. Aber der Westen sieht nicht, daß wir Chinesen unter Invasion nicht nur die Landetruppen verstehen. Unser Land hat viele Invasionen erlebt. Dauerhaft waren nur jene, die als Landungsfahrzeuge und als Sturmböcke Ideen mit sich brachten, nach denen das Land hungerte und die das Land überschwemmten.“

Der Marschall ist eine eigenartige Mischung von Soldat, Politiker, Ideolog. Die Ruhe und die Abgeklärtheit, in der er spricht, verhüllt nur dünn einen Fanatismus, den die Jahre vielleicht reifen, aber nicht auslöschen konnten. Wenn er über das Festland China spricht, weiß man nicht ganz klar, welcher Satz von Fanatismus gefärbt ist und welcher der Wirklichkeit entspricht. Aber vieles von dem, was der Marschall berichtet und was erstaunlich klingt, habe ich auch in anderen Städten des Fernen Ostens gehört, von eiskalten Routine- und Realpolitikern.

„Wir wissen“, sagt der Marschall, „daß die Ideen von der persönlichen Freiheit sich viel weiter in das kotmmunistische Festland eingefressen haben, als der Westen es sich vorstellt. Teilweise sogar sind sie auf dem Rücken des Kommunismus in Kreise eingedrungen, die früher solche Ideen kaum kannten. Der Kommunismus in China ist ein breiter Träger der eigenen Zersetzungsbazillen. Das alles ist für uns viel wichtiger, als die militärische Operation.“

DER MARSCHALL SETZT HIER EINEN PUNKT. Aber der 35jährige Oberst Wu - Wu heißt Fisch, und deswegen nennen wir ihn Mr. Fisch — knüpft an die Meinung an, ohne am Gespräch mit dem Marschall teilgenommen zu haben. „Ihr im Westen seht nur die eine Seite unseres Problems: wie wir an der Sohle des rotchinesischen Kolosses knabbern, bis es ihm und den Leuten, die uns heute noch schützen, zu dumm wird. Aber über China wissen wir mehr als der Westen. Das kommunistische Festland ist von der Sehnsucht nach Sicherheit und einem persönlichen Leben zersetzt, und das kommunistische Regime ist kaum mehr als ein Polizei- und Verwaltungsapparat und eine von fremden Kommandeuren geführte Armee.“

Und dann frage ich Oberst Fisch, was mit der Jugend sei, mit der Jugend auf dem Festland. — Und er antwortet nichts. Später sagt er: „Wir sind auch jung.“ — Das stimmt. Die Obersten a?iFp™osVinis gutes Menschenmaterial. Sie sind selbstbewußt. Sie haben wenig Geld und eine trockene Art des Enthusiasmus. Sie überlassen in Taipeh die Stadtviertel mit den roten Laternen den Kaufleuten und den Fremden. Es ist eigenartig, aber es tut gut, unter ihnen zu sein und in dieser Zeit irgendwo auf der Erde die Wimpel des Don Quichotte Wehen zu sehen. Aber sie sind wenige.

Der Marschall hatte das Gespräch über die Kräfte der Invasion abgebrochen. Dann kam er plötzlich auf die Vorwürfe zu sprechen, die ich ihm machte und noch nicht ausgesprochen hatte. „Dieses Taiwan, auf dem wir leben, wollen wir zu einem Modellchina machen, das die Chinesen auf dem Festland von uns wiederum überzeugt. Sie fragen mich, warum ich es nicht schon früher tat, zumindest ein China zu schaffen, ohne plündernde Generäle und ohne Korruption. Und Sie fragen mich, warum ich nicht von den 40 Jahren spreche, in denen ich die Kriege Chinas geführt habe, aber die Korruption auf dem Festland nicht besiegen konnte. -Zwischen den beiden Weltkriegen, als die Demokratie in Asien noch auf dem Papier stand, zeigte man auf mein China mit den Fingern und fragte: Wo ist dort Demokratie und Sauberkeit? Heute ist man wesentlich ernüchtert. Wem ist es gelungen, im Ablauf unserer Generationen Demokratie und Sauberkeit in dieser Zeitspanne in ein asiatisches Land einzuführen?“

AUF DER FREITREPPE ZUR RESIDENZ sah der Marschall noch schmächtiger aus. Die Fahrt zurück mit Oberst Fisch führte uns durch ein riesiges Tal, in dem von Arbeitern und Soldaten unter der Führung amerikanischer Ingenieure ein Staudamm errichtet wurde. Die Arbeiter wußten nicht, was eine Gewerkschaft ist, und sie arbeiteten zwölf Stunden im Tag. Aber sie haben einen garantierten Minimallohn, von dem sie leben können. Und sie hatten sichtlich keine Furcht vor dem hohen Offizier, der den Japaner und mich begleitete. Knapp vor der Stadt tranken wir in einem Bauernhaus Goleani. Wodka ist dagegen Himbeerwasser. Der Bauer, der ihn selbst brennt, sagte: „Wenn der Treibstoff ausgeht, nehmen wir Goleani für unsere Traktoren.“ Und er meint Traktoren, die es seit zwei Jahren in den Dorfgenossenschaften gibt. Mit Goleani kann man vielleicht Traktoren in Bewegung setzen. Aber wird es möglich sein, mit der Bodenreform in Taiwan den Kommunismus vom Festland zu vertreiben?

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