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Alter Traum und neue Realität

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Am 4. April war es soweit: zu Klängen der Nationalhymne wurde genau fünf Jahre nach dem Tod Chiang Kai Sheks ein Mausoleum zu seiner Ehre eröffnet. An sich ist es nichts ungewöhnliches, daß in Ländern, die den Personenkult hochhalten, solche „Memorialhalls” errichtet werden. Doch das neue Chiang-Mausoleum in Taipeh strahlt solche Gigantomanie aus, daß einem die Ironie des Schicksals der Insel Taiwan nur noch mehr ins Auge sticht.

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Am 4. April war es soweit: zu Klängen der Nationalhymne wurde genau fünf Jahre nach dem Tod Chiang Kai Sheks ein Mausoleum zu seiner Ehre eröffnet. An sich ist es nichts ungewöhnliches, daß in Ländern, die den Personenkult hochhalten, solche „Memorialhalls” errichtet werden. Doch das neue Chiang-Mausoleum in Taipeh strahlt solche Gigantomanie aus, daß einem die Ironie des Schicksals der Insel Taiwan nur noch mehr ins Auge sticht.

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Bei der Eröffnung waren alle mehr oder weniger greisenhaften Volksvertreter anwesend, die vor 32 Jahren von Chiang selber auf dem chinesischen

Festland gewählt wurden, und die noch heute als Kuomintang (KMT) die Fäden der Macht der Republik China auf der Insel Taiwan in Händen halten.

Der alte Traum, das Festland zurückzuerobern, scheint sich nun endgültig in Form dieses Mausoleums, dessen wuchtiges Glasdach eine Riesenstatue des „geliebten Führers” überdeckt, kristallisiert zu haben. Die Atmosphäre innerhalb des riesigen Raumes verdeutlicht diese Erstarrung der alten Hoffnung: ein immer wieder beschworener Geist eines gescheiterten Führers.

Trotz der internationalen politischen Abgeschiedenheit hält sich Taiwan wirtschaftlich erstaunlich gut - zumindest noch im Augenblick. Selbst als die Amerikaner die Volksrepublik anerkannten und den jahrelangen Bündnispartner Taiwan in Stich ließen, konnte dieser Umstand dem wirtschaftlichen Aufschwung nichts anhaben.

Und da das immer wieder propagierte Prinzip, mit keinem kommunistischen Land in irgendwelche Verbindungen zu treten, in wirtschaftlicher Hinsicht aufgelockert wurde, erlaubt die Regierung in Taipeh zum Zwecke der Markterweiterung taiwanesischen Geschäftsleuten, mit Osteuropa Handel zu treiben - ausgenommen mit der Sowjetunion.

Hinter der scheinbar stabilen Fassade eines für asiatische Verhältnisse ungewöhnlich hohen Lebensstandards jedoch braut sich in letzter Zeit auf politischer Ebene ein Sturm zusammen. Letztes und trauriges Beispiel: während das Chiang-Mausoleum eröffnet wurde, hatten acht Spitzendissidenten zwei Monate Verhör und einen Prozeß hinter sich, da sie „Landesverrat verübt und umstürzlerische Absichten gehegt” hatten.

Ihre wahre Schuld: die Herausgabe der liberalen Anti-Kuomintang Zeitschrift „Formosa” zum einen, und zum anderen ein unglücklicher Zusammenstoß zwischen etwa 160,00 „Formosa”-Anhängern und der Polizei bei einer Kundgebung am Tag der Menschenrechte am 10. Dezember letzten Jahres in Gaoxiong, der zweitgrößten Stadt im Süden der Insel.

Dabei wurden 180 Polizisten verletzt, von den verletzten Demonstranten ist bis heute in den hiesigen Medien kein Wort gefallen. Vor einigen Wochen sind die Urteile gefällt worden: 12 Jahre Minimum bis zu lebenslänglich.

Erstaunt hat es niemanden, und einige sicherheitsbewußte Taiwanesen waren sogar über „die Milde” erstaunt.

Dieser Prozeß und all seine traurigen Begleitumstände verdeutlicht die politischen Probleme, mit denen die KMT-Regierung konfrontiert wird: eine große und noch schweigende Gruppe in der größtenteils jungen Bevölkerung (etwa 35 Prozent unter 15 Jahre) hegt den Wunsch nach mehr Machtverteilung, nach Gründung einer wirkungsvollen Oppositionspartei und vor allem nach einer Zurechtrückung der Landesidentität.

Wenngleich die Verurteilung der Angeklagten im Gaoxiong-Prozeß und die Zensurierung aller liberalen Zeitschriften der Dissidentenbewegungen einen gewaltigen Schlag versetzt hat, so ist sich die Regierung der steigenden Spannungen wohl bewußt. Der scheinbare Versuch, durch einen hohen Lebensstandard den politischen Hunger einer zum Großteil jungen Bevölkerung zu stillen, ist nicht gelungen. Jetzt heißt es, Handlungen zu setzen.

Die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten sind jedoch beschränkt. Durch die relative Stabilisierung der Situation auf dem chinesischen Festland wurde der KMT-Propaganda-Maschi-nerie viel Wind aus den Segeln genommen. Immer mehr Taiwanesen reisen ins Ausland und wissen ganz genau, daß die Volksrepublik nicht unbedingt die „Hölle auf Erden” ist.

Durch die von einigen Leuten hier vertretene Ansicht, Taiwan solle eine eigene, von China unabhängige Republik werden, ist auch keine Lösung des Problems zu erwarten. Denn sowohl Peking als auch Taiwan sträuben sich gegen solche Gedanken. Den leeren Traum der Rückeroberung des Festlandes aufzugeben, ist im Augenblick nicht möglich: zumindest offiziell nicht, solange die alte Garde der KMT in der Regierung sitzt.

Ein Widerspruch nach dem anderen springt einem ins Auge und eine Lösung scheint es nicht zu geben: Taiwan? Republik Taiwan? Republik China? Wie also?

Das einzig realistische Zukunftsbild bleibt eine langsame Evolution, hoffentlich ungestört durch brutalere Zwischenfälle, die die zögernde Reformbereitschaft der KMT dahinschwinden läßt. Die Bedrohung vom Festland nimmt sowieso keiner mehr wirklich ernst, und trotz der offiziell kundgegebenen, absoluten Ablehnung der Volksrepublik oder jeglicher Kontakte mit dieser, sind sich die meisten Taiwanesen einig, daß geheime Kontakte zwischen den beiden Regierungen aufgenommen wurden - höchstwahrscheinlich über Hongkong.

Es ist zu hoffen, daß der Zwischenfall von Gaoxiong der Regierung eine Lehre war und daß somit in Zukunft die Kluft zwischen politischer Realität und politischem Traum geringer wird. Wie die meisten Taiwanesen es sehen: „Laß den Dingen Zeit, vor allem wenn sehr viel Alte etwas damit zu tun haben.” Es bleibt die Frage: Wie lange noch herrscht Geduld?

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