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Das andere China wartet

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Taiwan, das „andere China”, ist, wie man es sich vorstellt: wirtschaftlich stark, politisch vorübergehend verunsichert, im äußeren Erscheinungsbild total amerikanisiert, im Wesen dem Kurzbesucher unergründlich. Hier wie am Festland lädt die chinesische Seele hinter ihrer allzeit lächelnden Maske zu Spekulationen darüber ein, ob ein paar Jahrzehnte dieses oder jenes Regimes überhaupt irgendwelche Spuren in ihr hinterlassen…

China war eine Kultumation, als die Bewohner Europas noch in Höhlen wohnten. Die Schätze im Palastmuseum von Taipeh rufen es spektakulär in Erinnerung. „Als Chinesen denken wir in Dynastien”, erläutert der für politische Fragen zuständige Vize-Außenminister Frederic F. Chi- en. „Die kürzeste von ihnen dauerte 33, die längeren währten 200 bis 300 Jahre. Wir wissen, was Geduld heißt.”

Taipeh, die quirlende 2,1-Millio- nen-Hauptstadt der Republik China, zu der neben Taiwan einschließlich der Peskadoren-Inseln auch die zur Festlandsprovinz Fukien zählenden Inselgruppen von Kinmen (Quemoy) und Matsu gehören, stand zwischen 1895 und 1945 unter japanischer Herrschaft: Sind die Chinesen Taiwans deshalb etwa japanhörig geworden? Man bemerkt auf Schritt und Tritt viel eher das Gegenteil.

Aber Japan ähnlich haben die Taiwan-Chinesen in Form einer gewaltiger} Kraftanstrengung ihre Wirtschaft auf Hochleistungsniveau gebracht. Das reale Wirtschaftswachstum betrug im Vorjahr über zwölf Prozent, soll heuer und in den nächsten drei Jahren im Schnitt um die achteinhalb Prozent liegen. Die Inlandsinvestitionen haben 1978 um 36, die Auslandsinvestitionen um 30 Prozent zugenommen.

Daß mehr Auslandskapital als je zuvor in gleich langer Zeit seit Abbruch der diplomatischen Beziehungen durch die USA auf Taiwan getätigt worden sind, berichtet uns Wirtschaftsminister Chang Kwang-Shih mit besonderem Stolz.

Sorgenkinder sind seiner Darstellung gemäß die Energiefrage (Taiwan importiert vier Fünftel seines Energiebedarfs) und die Erhaltung der Kaufkraft in den Industriestaaten, vor allem denUSA, die 30 Prozent der taiwanesischen Exporte abnehmen. Das rohstoffarme Land ist stark auf Außenhandelsgeschäfte angewiesen und exportiert vor allem Textilien, aber auch Produkte seiner Leichtindustrie.

Von den Dimensionen seiner Industrie- und Handelsanstrengungen kann man sich bei einem Besuch in der südtaiwanesischen Hafenstadt Kaohsiung überzeugen, wo etwa ein Riesenstahlwerk mit modernster Ausstattung spektakuläre Expansionspläne verfolgt und eine Freihandelszone seit zwei Jahren Auslandskapital ins Land lockt.

Der Anreiz relativ niedriger Löhne (der Mindestlohn beträgt laut Gesetz 68 US-Dollar pro Monat, liegt aber nach offiziellen Angaben bei Hilfsarbeitern immerhin um 250 und bei Facharbeitern bei 350 Dollar) ist gekoppelt mit der Zusicherung praktischer Streikfreiheit. Diese garantiert freilich kein Gesetz, aber eine Regierung, deren Gewaltausübung sicher nicht gerade als Musterfall westlicher Demokratie angesehen werden kann.

„Wir sind ein unter ständiger Bedrohung lebendes Land”, begründet man die autoritäre Regierungspraxis, gibt aber gleichzeitig zu verstehen, daß niemand sich in absehbarer Zeit eirie rotchinesische Invasion vorstellen kann. Sozialleistungen für die Arbeitnehmer wie Kranken- und Pensionsversicherungen, auch Wohnungen (meist überfüllte Belegschaftshäuser) stellt im Regelfall ein Unternehmen bei, nur in bescheiden-subsidiärer Weise der Staat.

Nach einigen Gesprächen mit Spitzenvertretern der Regierung und der Wirtschaft festigt sich rasch ein Eindruck: Die brillanten Typen sind offenbar vor allem im Wirtschaftsmanagement zu finden. Regierungsämter sind zwar von viel Pomp und Soldatenspielerei umgeben, aber offenbar keineswegs die einzigen Schaltstellen der Macht.

In Gesprächen mit Regierungsfunktionären (über ein Interview mit Premierminister Sun Yun-suan berichtete die FURCHE am 29. August) begegnet man mit der Frage nach mittel- und langfristigen Perspektiven der taiwanesischen Politik einer vagen Unverbindlichkeit.

„Unsere Erfolgsstory muß auf Dauer die Phantasie aller Chinesen beflügeln”, meint Tsai Wei-ping, der Direktor des im grünen Vorstadthügelland von Taipeh errichteten Instituts für internationale Beziehungen. „Wir müssen unser System als wahlweise Alternative für die Festlandchinesen anbieten”, sekundiert Außenminister-Stellvertreter Frederic Chien.

Freilich: Würde ein detaillierter Wiedervereinigungs- oder gar Festlanderoberungsplan nicht ausgesprochen lächerlich wirken? Was sonst als warten kann man auf Taiwan denn derzeit tun? Neun Monate, nachdem die formellen diplomatischen Beziehungen zu Taiwan von den USA der neuen Freundschaft mit Peking geopfert worden sind, nimmt sich die Warteposition der 17-Millio- nen-Inselrepublik keineswegs übler als vorher aus. Und insgesamt keineswegs übel.

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