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Zwischen Schuld und Ratlosigkeit

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Die Regierungen sind durch ölpreise und Inflation immer tiefer in ihre Sackgassen getrieben worden und haben ihre Pläne längst aufgegeben. Die Oppositionen versickern in den Boden der progressiven Demoralisierung durch Not und Enttäuschung. Zur Jahreswende 1973 stand man unter dem Schock der Erdöl- timwälzung. Jetzt kennt man die Folgen. Unaufhaltsam, wie Lava aus unermüdlichen Vulkanen, breiten Energie- und Devisenschwund ihre tödlichen Decken über die Industriekomplexe in Indien, über die Produktionsstätten der anderen Staaten. Und damit verbunden, lähmt das Scheitern jeglicher landwirtschaftlicher Reform die physische Widerstandskraft der Hassen. Das gilt für die Staaten Südasiens, aber auch für die rohstoffarmen Staaten in östlicher Nachbarschaft des unglückseligen Subkontinents, für Burma und Thailand. Auf dem Territorium der Staaten Indien, Pakistan, Bangladesh, Ceylon, Burma, Thailand stieg die Bevölkerung im vergangenen Jahr um 2,9 Prozent, und das Nationaleinkommen um 0,4 Prozent.

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Die Regierungen sind durch ölpreise und Inflation immer tiefer in ihre Sackgassen getrieben worden und haben ihre Pläne längst aufgegeben. Die Oppositionen versickern in den Boden der progressiven Demoralisierung durch Not und Enttäuschung. Zur Jahreswende 1973 stand man unter dem Schock der Erdöl- timwälzung. Jetzt kennt man die Folgen. Unaufhaltsam, wie Lava aus unermüdlichen Vulkanen, breiten Energie- und Devisenschwund ihre tödlichen Decken über die Industriekomplexe in Indien, über die Produktionsstätten der anderen Staaten. Und damit verbunden, lähmt das Scheitern jeglicher landwirtschaftlicher Reform die physische Widerstandskraft der Hassen. Das gilt für die Staaten Südasiens, aber auch für die rohstoffarmen Staaten in östlicher Nachbarschaft des unglückseligen Subkontinents, für Burma und Thailand. Auf dem Territorium der Staaten Indien, Pakistan, Bangladesh, Ceylon, Burma, Thailand stieg die Bevölkerung im vergangenen Jahr um 2,9 Prozent, und das Nationaleinkommen um 0,4 Prozent.

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In jedem Staat wuchs die Schere zwischen Reichen und Armen zu altfeudalen Dimensionen. Nirgends bemerkten die Privilegierten an der Spitze und der profitierende Mittelstand die schwere Last. Überall wurde diese auf die Unartikulierten in den Dörfern und in den Slums abgewälzt. (Bombay 1974: 67 neue Wolkenkratzer, 400.000 neue Flüchtlinge vor dem dörfischen Hunger auf den Straßen.) So kommt zu den Folgen der Erdölpreise und zum Scheitern der „Grünen Revolution” der Mangel an traditioneller Fähigkeit und an Willen, die lebensnotwendigen Güter nach einem Minimalsatz sozialer Erwägungen zu verteilen und nicht zu Spekulationsobjekten werden zu lassen. Die meisten Regierungen sind weniger schuldig als ratlos. Den ratlosen Regierungen stehen wirkungslose und zerspaltene Oppositionen gegenüber. In solchen Tiefenlagen versiegt in der Masse der Widerstandswille und herrscht auch in der Opposition das Motto „Rette sich, wer kapn”. Von der Korruption, nicht mehr eine Krankheitserscheinung, sondern ein dominierender Zustand, sind überall die Oppositionen fast mehr ergriffen als die Regierungen.

Von der Hoffnungslosigkeit, eine gerechte Aufteilung in den eigenen Staaten erreichen zu können, lenken Regierungen und Oppositionen auf die Hoffnung einer erzwungenen Aufteilung der Güter dieser Erde zwischen Industriestaaten und Dritter Welt ab. Die Kollektiverfolge der Dritten Welt in der UNO sind nur die Ausgangspositionen. Die arabischen Erdölstaaten zählen als die Sturmböcke vor der feindlichen Festung. Das Denken und Hoffen der Massen in den ärmsten Staaten der Dritten Welt wird auf die Reichen und Mächtigen der Dritten Welt gelenkt: auf die Erdölstaaten. Doch in Indien gibt es ein neues Versuchen — auf die Zusammenarbeit mit dem Iran gerichtet. In der Windstille könnte das ein Wendepunkt werden.

Auch die Zeitungen in Bombay brachten die Meldung, Washington schließe eine Erdölpreisregulierung durch die militärische Besetzung der arabischen Erdölstaaten nickt aus; Israel werde Washington ferngelenkter Sprengkopf sein. „Indian Express”, Tageszeitung und Sprachrohr des harten Businessman-Kerns der Opposition, bringt einen Artikel ihres Washington-Korrespondenten: Nicht nur die USA, sondern auch die westeuropäischen Industriestaaten spielen mit dem Gedanken der Ölpreisregulierung durch israelische Mittelostaggression. In der Zeit zwischen den beiden Meldungen protestiert der indische Verteidigungsminister Swarang Singh gegen „NATO-Ma- növer im Indischen Ozean”. Und muß am nächsten Tag die Fehlinformation eingestehen. Es handelt sich nicht um NATO-, sondern um CENTO-Ver- bände. Tatsächlich handelt es sich überhaupt nicht um Manöver, sondern um reguläre Flottenbewegungen.

Kommunisten, Oppositionelle, Minister, alle ziehen am selben Seil — weg von der drückenden Wirklichkeit. Ähnliches Spiel wird in den anderen Staaten der Region betrieben, die noch weit unter dem indisehen Tief liegen. In Pakistan laufen alle Propagandaplatten gegen den westlichen Verbündeten, die USA, für den östlichen, China, vom Westen beginnt man Reparationen für den Zerfall des Landes zu fordern. In Bangladesh, nach der Proklamation des „nationalen Notstandes gegen bewaffnete Agenten des Auslandes” gilt zwar der Befreier Indien als der Hauptverantwortliche für Hunger und Anarchie, doch vom Westen beginnt man Reparationen für die Zerstörungen durch die (westlich unterstützten!) Pakistanis zu fordern; die Brücken mit Pakistan und mit den arabischen Staaten, 1971 abgebrochen oder geschwächt, werden von Regierung und Opposition mit Bekenntnissen zum All-Isam restauriert. In Burma dichtet ein todkranker Präsident, Ne Win, nach einer kurzen Zeit der’ Liberalisierung, die Reise- und Kommunikationskanäle mit dem Westen wieder ab. Und bezichtigt den Westen, durch die Unterstützung von U Nu das Land ruinieren zu wollen. In der ganzen Region steigen Chauvinismus und Wiedergutma- chungsresentiments gegen den Westen im gleichen Maße, wie Lebensstandard und Hoffnungen sinken. Freilich zeigen sich auch Immunitätserscheinungen in der Masse. Was zählt, ist aber der unruhige Mittelstand.

Gedämpft behandelt nur die sonst nicht so gedämpfte Indira Gandhi dieses erfolgssichere Thema. Von den sieben Jahren an der Spitze des 600- Millionen-Volkes ist sie sichtbar gealtert, erschöpft. Dennoch investiert sie Indiens Größe — an die sie ohne Zweifel glaubt — in gewagte Rettungsversuche.

Indiens Wirtschaft, die große Industrie der kontinentalasiatischen Staaten, verschmachtet in der Zange zwischen Staatskontrolle und schwarzer, unterirdischer Finanz. Erdöl trieb das Siechtum nur in ein akutes Krankheitsstadium. Alarmbehandlung mit allen Mitteln ist die einzige Therapie. Der große Verbündete läßt auf sich warten. Moskau löst das Versprechen nicht ein, die Sowjetbürger mit Tuch aus der indischen Textilindustrie zu kleiden. (Es ist hervorragendes Tuch, viel besser als die sowjetische Ware.) Moskau zieht das Versprechen zurück, Kalkuttas rettende Untergrundbahn zu bauen. Moskau läßt Indien in gleicher Münze zahlen: Will Indien aus der UdSSR lebensnotwendige Güter, so muß Indien lebensnotwendige Güter in die UdSSR exportieren. Der indische Gütertransport scheitert bei allen Industrielieferungen und auch bei Notlieferungen in Territorien der Hungersnot am Mangel an Waggons; doch fast 25 Prozent der Waggonproduktion muß- Indien den COME- CON-Ländem liefern.

Mißtrauen in Moskau, Unmut in Delhi belasten das Verhältnis. Auf das sowjetische Mißtrauen reagiert Indira mit einer eigenwilligen, selbstgeprägten Außenpolitik. Der große Verbündete wird nur in Ausnahmefällen befragt und selten informiert. Wie könnte ein aktionsfähiges Amerika jetzt und von dieser Situation profitieren! So aber geht Indiras Streben in eine andere Richtung: Normalisierung der Beziehungen mit China, wirtschaftliche Kollaboration als Rampe für die politische Kollaboration mit dem Iran.

Man hat in Delhi die Hoffnungen auf einen Zerfall Chinas nach Maos Tod in den Hintergrund geschoben. Beides läßt auf sich warten. Außenminister Soares kam aus Portugal als Staatsgast nach Delhi. Und die diplomatischen Beziehungen, abgebrochen nach Nehrus gewaltsamer Besetzung Goas, werden wiederhergestellt. Soares reiste nach Peking. Man hoffte in Indien, daß er dort ganz allgemein im Sinne der Normalisierung der Beziehungen sprechen werde, auch der indisch-chinesischen.

Wichtiger als Indiens heue Peking- Politik ist aber Indiens neüe Mittelost-Politik. Die Reden und die Kommuniques bei und nach dem Besuch des Schah in Delhi waren doch nicht bloße Rhetorik. In der vor sich hindösenden indischen Wirtschaft ist ein neuer Unternehmungsgeist zu spüren. Für indische Zivil- und Rüstungstechnologie, für gemeinsame Projekte ist der Schah bereit, Billionen von Dollars zu investieren. Der Schah hat Geld, der Schah verfügt über Organisationen, Indien hat Intellekt, Indien hat einen Uberschuß an Experten. Aus solchen Konstellationen kann nicht nur wirtschaftliche Kooperation, sondern auch Großraumpolitik entstehen. Das ist ein neues Element im sonst so trüben Bild Südasiens. Wie wird Moskau sich mit den neuen Perspektiven seines Verbündeten abfinden? Zum Neuen Jahr wurde in Delhi angedeutet, daß Überraschungen bevorstünden: Eine Reise der Indira Gandhi nach Moskau und Parlamentsauflösung, Parlamentswahl; beides lange vor den festgesetzten Terminen. Und in der Region, deren dominierende Macht Indien ist, fragt man sich: Geht es um Indiras Vollmacht für Indiens außenpolitisches Auftreten?

Die Staaten der Region haben es nicht leicht, auch außenpolitisch. Und Indien, größte und auch sensitivste Macht der Region, spürt die außenpolitischen Schwierigkeiten am stärksten. Immer bedrückender ver- ßen Einsatz zu leisten, Delhi in das Schlepptau der COMECON nehmen. Indiens Option — für oder gegen Breschnjews asiatischen Sicherheitspakt und seine China-Politik — wäre durch eine wirtschaftliche Satellitenposition endgültig Fiktion. Niemand eignet sich aber weniger als Indira Gandhi, Satellitenstatthalter zu sein.

Washington freilich hat alles Verlockende verloren. Geringschätzung für Präsident Ford herrscht überall und allgemein. Und wertlos erscheint Seine, die amerikanische Freundschaft. „In den USA ist die Opposition die wahre Macht. Sie hat Vietnam nach ihrer Manier beendet. Sie hat Ähnliches für Israel auf dem Lager. Mit der Opposition kann man keine Bündnisse schließen. Präsident Ford steht unter dem Druck der Opposition. Die Opposition steht unter dem Druck der Energie- und Wirtschaftskrise. Opposition und Präsident sind für Asien und in Asien leistungsunfähig geworden; vor allem militärisch und politisch. So definierte der Abgeordnete Pilo Mody Washingtons Position. Als Führer der proamerikanischen Opposition ergänzte er: „Als Washington noch Kraft und Interesse hatte, wendete sie (Indira) sich ab. Jetzt will sie wieder mit Washington kokettieren. Sie hat nie das amoureuse Spiel verstanden.” Das hat sie wahrscheinlich wirklich nicht. Doch jetzt, gealtert, erschöpft, sucht sie nach Auswegen aus der politischen Zwangslage und aus der Hoffnungslosigkeit. Die Moskaureise und die Neuwahlen werden zeigen, ob es noch Auswege gibt. Das Urteil wird für ganz Südasien gültig sein.

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