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Die Realpolitik 1972 ist nicht ungefährlich

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Realpolitik ist, so sagt man jetzt, das Gebot der Stunde. Das Wort stammt von dem Deutschen August Ludwig von Rochau (1810 bis 1873). Nach der Niederlage des liberalen Bürgertums in der Revolution von 1848 sollte Realpolitik Wandel schaffen. Die Reaktion hatte die letzte große Revolution des dritten Standes besiegt. Die Führer des vierten Standes, des Proletariats, hatten das revolutionäre Prinzip an sich gerissen. Von Rochau zog aus geschichtlicher Erfahrung die Lehre: der spürbare Sieg der Gewalt der Tatsachen über die Macht der Ideen sollten den Deutschen mehr Respekt vor der politischen Wirklichkeit beibringen. In der Schrift „Grundsätze der Realpolitik“ (1853) erläuterte von Rochau, was der Unterschied zwischen einer auf bloßen Theorien und Illusionen beruhenden Politik und realpolitischen Handlungen auf Grund wirklicher Verhältnisse ist.

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Realpolitik ist, so sagt man jetzt, das Gebot der Stunde. Das Wort stammt von dem Deutschen August Ludwig von Rochau (1810 bis 1873). Nach der Niederlage des liberalen Bürgertums in der Revolution von 1848 sollte Realpolitik Wandel schaffen. Die Reaktion hatte die letzte große Revolution des dritten Standes besiegt. Die Führer des vierten Standes, des Proletariats, hatten das revolutionäre Prinzip an sich gerissen. Von Rochau zog aus geschichtlicher Erfahrung die Lehre: der spürbare Sieg der Gewalt der Tatsachen über die Macht der Ideen sollten den Deutschen mehr Respekt vor der politischen Wirklichkeit beibringen. In der Schrift „Grundsätze der Realpolitik“ (1853) erläuterte von Rochau, was der Unterschied zwischen einer auf bloßen Theorien und Illusionen beruhenden Politik und realpolitischen Handlungen auf Grund wirklicher Verhältnisse ist.

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Es kommt dabei auf einen „Sinn für politische Realitäten“ an. Oder, wie Otto von Bismarck es formulierte, auf die Fähigkeit, in jedem wechselnden Moment der Situation das am wenigsten Schädliche oder das Zweckmäßigste zu wählen. Demnach ist Politik keine exakte Wissenschaft, sondern eher eine Kunst, von Epigonen verballhornt: die Kunst des Möglichen. Man weiß, was sogenannte Realpolitiker aus dieser Kunst des Möglichen zuweilen machen: ziellose Opportunitätspoli-tik von Fall zu Fall; brutale Gewaltpolitik; unschlüssiges Zuwarten. Während Realpolitik ursprünglich (nach 1848) einen „Hang der Deutschen zur Ideologie“ bekämpfen sollte, geschieht es in Wirklichkeit immer wieder, daß Ideologen und politische Rattenfänger vorgeben, „nüchterne Realpolitik“ zu betreiben, während sie tatsächlich ihre exaltierten Methoden verwenden.

Nach nationalsozialistischer Ansicht, aber nicht nur nach dieser, war Otto von Bismarck der große Erzieher der Deutschen zur Realpolitik. Seit Bismarck hätten die Deutschen diese Lektion wieder vergessen. In der Weimarer Republik hätten die Staatsmänner Realpolitik mit schwächlicher Opportunitätspolitik verwechselt. Hingegen sei das Abkommen Ribbentrop - Molotow vom August 1939 Ausdruck einer Realpolitik gewesen. Seit dem zweiten Weltkrieg ist man in Deutschland und in der UdSSR von dieser Realpolitik des Hitlerismus und des Stalinismus nicht mehr so ganz überzeugt.

Die zweite Intention entscheidet

Wie beim Fechten, entscheidet in der undogmatischen Realpolitik oft die „zweite Intention“ desjenigen, der mit mehr Konsequenz und Kraft Politik macht. So folgt dem anfänglichen Appeasement zuweilen Kapitulation und Unterwerfung (Juliabkommen Österreich — Deutsches Reich 1936, Anschluß 1938); folgt dem Verzicht auf militärische Initiativen hilfloses Gewährenlassen (Neutralisierung Kambodschas 1954, Auslieferung der Nachschubwege an den Vietkong 1965); folgt der Jagdgesellschaft der Agressoren das blutige Duell der Jäger (vierte Teilung Polens 1939, Krieg in Rußland 1941).

In der freien Welt des Westens stellt jetzt ein gewisses News Management Realpolitik als den Stil der Zeit heraus. So das Appeasement Nixon-Mao; die SALT-Runden der Atomsupermächte USA-UdSSR; das Vorgehen der Bonner Linkskoalition bei Abschluß der Ostverträge; das kombinierte Vorgehen Indiens und der UdSSR in Ost-Pakistan. Die Etikette Realpolitik klebt auf sehr verschiedenen Modellen. Einmal mehr stellt sich beim Gebrauch der Formel Realpolitik heraus, daß gewisse politische Ideen, wenn sie bloß formelhaft als leere Begriffshülsen verwendet werden, vielfach deutbar sind und in verschiedenen Situationen verschiedene geschichtliche Funktionen haben.

Wer sich trotz des lauten Trommelschlages der Massenmedien die Unabhängigkeit politischen Denkens bewahrt hat, war unlängst Zeuge der Stunde der Wahrheit: als im Bonner Bundestag, während der Debatte

über die Ostverträge, der CSU-Abgeordnete Stücklen dem sozialdemokratischen Bundeskanzler vorhielt, Brandt verwende bei der Anerkennung politischer Realitäten jetzt zweierlei Maß. Nach dem 30. Jänner 1933 hätte sich der junge Brandt der Realität Hitler nicht gebeugt, sei er lieber in die Emigration gegangen, hätte er den Hitlerismus bis zum Ende bekriegt. 1972, angesichts des roten Faschismus (= DDR) lege Brandt einen ganz anderen Maßstab an als ehedem im Kampf gegen den braunen Faschismus. Die Antwort der Bonner Linken war keine sachliche Feststellung, sondern ein Ausbruch erregter Gefühle. Dem Bundeskanzler selbst, der sonst nicht wortkarg ist, fiel kein besseres Argument zur Erwiderung ein als: Heuchelei. Mag der Streit darüber, ob der Oppositionsabgeordnete in diesem Fall eine Frage zuviel gestellt hat, fortgehen. Die Antwort des sozialdemokratischen Bundeskanzlers war jedenfalls per saldo eine Antwort zuwenig. Die Replik des Sprechers der Linken machte erst so richtig deutlich, daß die Realpolitik der Bonner Linken eine einäugige Politik ist.

Unabhängig davon, ob die fraglichen Verträge ratifiziert und angewendet werden und wie das Wählervolk schließlich dieses kalkulierte Risiko honorieren wird, bleibt die Tatsache bestehen: Die Deutschen und der Rest der Welt werden das einmal begonnene Experiment nicht mehr vom Hals bekommen. Und die Deutschen werden die Realpolitik von 1939 (mit ihren Auswirkungen auf Mittel- und Ostmitteleuropa) mit der Realpolitik von 1972 bezahlen; sie werden zusätzliches politisches Zahlgeld auf den Tisch legen müssen.

Teufel an der Wand

In einer Stunde wie dieser soll man nicht den Teufel an die Wand malen. Den haben schon andere aufgemalt. Die Folgen einer willkürlichen Anerkennung politischer Realitäten, das zweierlei Maß im Politischen verwendet wird — sie werden uns nicht nur im Falle der Zerreißung Deutschlands, sondern vor allem nach jener des indischen Subkontinents' bewußt.

Keine Gewaltpolitik, sondern Realpolitik ist demnach das aggressive Vorgehen der von Moskau gut gelenkten Regierung der indischen Sozialistin Indira Ghandi gegen den UNO-Mitgliedstaat Pakistan; die gezielte Aufwiegelung und militärische Ausrüstung der Mukti-Bahini-Partisanen in Ost-Pakistan (Bengalen) durch das offizielle Indien; die Bereitstellung regulärer Truppen Indiens zur „Befreiung“ Ost-Pakistans während des Besuches Indira Ghandis in Europa und auf dem Sozialistenkongreß, den Bruno Pittermann in Finnland präsidierte; die Legalisierung des geglückten Aggressionsaktes durch die sofortige Anerkennung der von sich selbst ernannten Regierung des neuen Staates Banda Desh unter dem „Tiger von B galen“ (Scheich Mudschibur Rahman) seitens Indiens, der „sozia.'s'. ischen Staaten“ sowie ihrer Kofferträger in der freien Welt des Westens.

Hingegen war „auf der anderen Seite“ der Befehlshaber der regulären pakistanischen Truppen in Ost-Pakistan, Tikka-Khan, ein „Besatzer-Marschall“ auf eigenem Staatsgebiet; als „Militarist“ war dieser nicht ein populärer Tiger, sondern ein „Schlächter“; die von der Avantgarde des modernen Marxismus (Peking) unterstützte pakistanische Regierung ist im Gegensatz zu der von Moskau gemanagten indischen Regierung ein „feudalistisch-kapitalistisches Regime“; zu diesem diskriminierenden Image gehört es, die Persönlichkeit des Tigers von Bengalen aus dem Status des Sohnes eines begüterten Grundbesitzers in den eines „armen, revolutionären“ Kleinbürgers zu verwandeln; und das kombinierte Vorgehen Indiens und der Sowjetunion als einen Sieg der Armen im Klassenkampf zu interpretieren.

Daß progressive Kräfte im Ausland die Mukti-Bahini in Ost-Pakistan zum Kampf gegen ihre Regierung aufputschten und aufrüsteten, entsprach wiederum jener „sozial-humanen Vernunft“ im Sinne Ernst Blochs, die sich im Kampf als „aktiv ohne Ausrede“ zu bewähren hat. Den humanitären Hilfsorganisationen in aller Welt, zumal den christlichen, überließ man es, wie 1967 bis 1970 während des Aufstandes in Biafra, für die Opfer der ungeheuren Flutkatastrophe des Vorjahrs, der längst als unabwendbar vorausgesehenen Hungersnot und der militärischen Aggression zu sorgen. Nach dem Motto: Nahrungsmittel senden mögen die anderen, wir senden Waffen. Nachdem sich die Satten in aller Welt auf Grund der Lektüre der Wochenmagazine der Hungernden ein wenig erbarmt und wegen der von pakistanischen Soldaten zu Komißhuren gemachten Frauen und Mädchen in Bengalen entrüstet hatten, blieb nur noch wenig Mitleid für die jetzt vom Tiger von Bengalen unterdrückte Bihari-Minderheit übrig und ihre Frauen und Mädchen, an denen jetzt die Mukti-Bahini „Rache nehmen für ihre Schwestern“.

In der freien Welt des Westens ist der Staatschef von Bangla Desh Scheich Mudschib, so etwas wie ein „demokratischer Sozialist“; und nach dem Vorbild der britischen Labour-Partei „Vorkämpfer gegen Feudalismus, Militarismus und Kapitalismus“ sowie „letztes Bollwerk gegen den Bolschewismus“. Letzteres müßte genügen, um ihn auch in

Washington tabu zu machen; ihn und die Sozialistin Indira Ghandi, deren Partei bei der jetzt in Gang befindlichen Wahlkampagne in einzelnen Provinzen auch für die KP und deren Kandidaten Propaganda macht, wie auch die KP sich dankbar erweist und für Frau Indira Ghandi und deren Partei ihre Agitprop in Bewegung setzt.

Wieder einmal treten in einer politischen Spätkrise jene sozial-revolutionären Typen auf, die oft das besorgen, was Alexander F. Kerensky im Jahr 1917 in Petrograd als erster tat: die Tür aufreißen, durch die nachher der Kommunismus die Szene betritt. Das geschieht jetzt auf dem indischen Subkontinent mit brutaler Gewalt; und in dem Land, dessen Name seit Mahatma Ghandi Symbol ist für Prinzipien, die heute jungen Menschen in aller Welt teuer sind: War without violance und Satyagraha, gewaltloser Widerstand.

Ein unschuldiges Unternehmen

1972 erreicht also der globale Einfluß des Kremls die Zugänge zum Indischen Ozean. Einmal war ein solches Vordringen der Russen ein Alptraum britischer Kolonialpolitiker. Erst nach der schweren Niederlage des zaristischen Rußland im Krieg gegen Japan (1904/05) und den Erschütterungen der Revolution von 1905/06 verstand man sich in St. Petersburg dazu, mit Großbritannien betreffs der Einflußsphären an der nordindischen Grenze zu einem Arrangement zu kommen. Das geschah am Vorabend der Reaktivie-rung der Europapolitik Rußlands und zur Komplettierung der gegen das Deutsche Reich gerichteten franco-russischen Entente. Wer allerdings jetzt den Gang der Ereignisse in solche Perspektiven einfluchtet, muß es sich vom deutschen Außenminister Scheel (FDP) gefallen lassen, zu jenen gezählt zu werden, die offensichtlich wieder „die verfallenden Unterstände aus der Zeit des kalten Krieges besetzen“ möchten. Die Deutschen sind, im Gegensatz zu den Russen, nicht eben ein gedächtnisstarkes Volk.

„Ein System (in einer Revolution) zu stürzen, ist ein unschuldiges Unternehmen, während ein Reich zu stürzen in allen Fällen etwas Bedenkliches ist.“ Wie drastisch tritt doch die Gültigkeit dieses Satzes jetzt zutage. Angesichts des Schicksals der Reiche und Subkontinente, die zerrissen werden. Übrigens: das Zitat stammt nicht von einem Berufsrevolutionär. Es stammt von dem gewesenen österreichischen Staatskanzler Fürst Metternich. Er gebrauchte es in einem Brief, den er nach der 48er-Revolution aus dem Exil einem Freund in Wien schrieb. Henry Kissinger, Sohn eines jüdischen Volkes, das seither durch die Welt gejagt und auf alle Barrikaden gestellt wurde, hat für das Friedenswerk, das Metternich auf dem Wiener Kongreß von 1814/15 für das Europa des 19. Jahrhunderts zustande brachte, ein bemerkenswertes Verständnis gezeigt. Nach dem, was 1918 und 1945 an Europa geschah, möchte man hoffen, daß in den USA späte Einsichten nicht zu spät kommen.

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