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Abschied von einer Kaiserkrone

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Wenn am 1. Juni 1948 die britische Flagge über dem vizeköniglichen Palast in Delhi niedergeholt wird, vollzieht sich ein Ereignis, für das britische Zeitungen nur in der freiwilligen Räumung Britanniens durch die römischen Legionen eine Parallele finden.

Aus dem Körper eines Weltreiches löst sich, durch freiwillige Übereinkunft, ein territoriales Gebilde, an geographischer Fläche und Bevölkerung etwa Europa ohne der Sowjetunion gleich, von Menschen der verschiedenartigsten Sprachen, Rassen und Religipnen bewohnt — eine neue Groß-macht, vielleicht die künftige asiatische Vormacht).

Es ist nötig, sich die Größenordnung dieses Ereignisses durch Zahlen zu veranschaulichen. Das britische Imperium umfaßt, nach aus den Jahren 1939 bis 1941 stammenden Statistiken in abgerundeten Ziffern:

Großbritannien und km Einwohner

Nordirland . . . 240.000 47,500.000

Dominien, Kolonien u.

Schutzgebiete . . . 30,200.000 102,500.000

Mandate des Völkerbundes ...... 2,200.000 9,500.000

Anglo-ägypt. Sudan . 2,500.000 6,500.000 35,140.000—166,000.000

Britisch-Indien r. r.™ 4.300.000 390.000.000

DaherJ insgesamt . . . 39,440.000 556,000.000

In die Flächeneingaben sind üblicherweise die ungeheuren Eiswüsten Britisch-Nordamerikas, die Sandsteppen Australiens einbezogen, so daß einem richtigen Vergleich die Bevölkerungszahlen zugrunde gelegt werden müssen.

Indien ist nicht mehr als ein geographischer Begriff. Auf seinem Boden wohnt mehr als ein Sechstel der Bevölkerung der Erde, zusammengehalten nur durch das Band der britischen Herrschaft. Seine Völker sprechen mehr als 50 verschiedene Sprachen,! es setzt sich staatsrechtlich aus den britich-indischen Provinzen und 678, oft ganz kleinen, eingeborenen Fürstenstaaten zusammen, die England bündnismäßig untergeordnet sind. Einer überwiegenden Mehrheit von Hindus stehen 90 Millionen Bekenner des Islam gegenüber, die — eine weitere Schwierigkeit — im Westen und im Osten, im Indus- und im unteren Gangestal siedeln, durch einen breiten Keil von Hindus voneinander getrennt. Die immer wieder aufflackernden, furchtbaren Straßenkämpfe in Kalkutta geben großenteils darauf zurück, daß diese reiche Handelsstadt von Hindus, die sie umgebende Provinz Bengalen von Moslems bevölkert ist.

Einig sind alle diese heterogenen Ele-meniie nur in der Ablehnung der britischen Herrschaft. England hatte den Indern im ersten Weltkrieg weitgehende Versprechungen gemacht, sie wurden, aus verschiedenen Ursachen, nur zum Teile erfüllt. Trotzdem hat das Land im zweiten Weltkriege dem Empire gegenüber im höchsten Maße seine Pflicht erfüllt. Eine britische amtliche Darstellung weist aus, daß Indien — ohne Wehrpflicht — an Kampftruppen zweieinhalb Millionen Mann stellte — die vierzehnte britische Armee in Burma in Stärke von einer Million Soldaten zählte darunter siebenhunderttausend Inder. Acht Millionen standen in militärischen Hilfsdiensten, fünf Millionen arbeiteten in der Kriegsindustrie. Eine weitere Million erforderte die gigantische Erhöhung der Transportleistungen. Dazu kamen ungeheure Lieferungen an Rohstoffen und Ausrüstungsmaterial, die sich in einer unbezahlten Forderung an England von etwa eineinhalb Milliarden Pfund spiegeln. Die dreitausend Meilen lange, modernst angelegte Autostraße von Nordwestindien über Persien nach Russisch-Asien ist Indiens Werk.

Angesichts dieser unbestreitbaren und unbestrittenen Verdienste wurden nach Kriegsende die indischen Forderungen dringend. Gestützt auf die Atlantik-Charta, verlangte es seine volle Souveränität. So begab sich im Vorjahre eine britisch Kabinettsmission nach Indien und erließ nach eingehenden Beratungen am 6. Mai 1946 eine Erklärung, nach welcher England seine Regierungsgewalt einer einheitlichen, aus Hindus und Moslems gebildeten, aus einer gewählten, konstituierenden Nationalversammlung hervorgehenden indischen Regierungsgewalt übergeben wollte. Eine starke, neue Regierung erscheint tatsächlich aus zwingenden Gründen nötig: Die Verantwortung, welche die Überleitung dieses Riesenreiches beiden Partnern auferlegt, ist ungeheuer und kann nur von einer einheitlichen und stark fundierten Regierung getragen werden. Sie ist zur Übernahme und Führung der indischen Armee, zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Zwischenstadium, zur Regelung der Einfuhr und Verteilung von Rohstoffen und Lebensmitteln, zur Abwehr der immer wieder auftretenden, regionalen Hungersnöte wie zum Schutz der Minderheiten unerläßlich. Keine indische Provinzialregierung, von denen manche wenig Ansehen genießen, wäre dazu fähig. Dieses Programm der Einheit Indiens vertritt die Kongreßpartei der Hindus unter Leitung Nehrus, der — wie Gandhi und auch Jinnah und die meisten anderen Führer in beiden Lagern — in England studiert hat und dessen Integrität außer Zweifel ist. Seine Partei hat ihren Kampf mit Menschlichkeit geführt. Ihre Lage wird durch die „Parias“ erschwert, die heute noch nicht imstande sind, ihre Interessen selbst zu vertreten und unter denen sich kommunistische Einflüsse geltend machen. Dagegen ist es der Kongreßpartei gelungen, sich mit den indischen Fürsten über deren Vertretung in der konstituierenden Versammlung zu einigen. Diese hatten sich vorher untereinander zur Dekkanunion zusammengeschlossen. Das Budget, das der erste narionalindische Finanzminister vor kurzem vorgelegt hat, kann übrigens angesichts der Abschaffung der die ärmeren Schichten brückenden Salzsteuer und der radikalen Erhöhung der Einkommen- und Vermögenssteuern als sozialistisch bezeichnet werden.

Diese allindische Konzeption widerspricht dem Standpunkt der Moslemliga. Zwischen England und den Moslems herrscht eine traditionelle Freundschaft. Sich gegen die Liga zu entscheiden, bedeutet das Risiko eines Bürgerkrieges. Denn die Moslems sind eine kriegerische Schichte, energisch, von dem höchst ehrgeizigen und eigenwilligen Jinnah geführt und durch die Erinnerung an die alte mohammedanische Vorherrschaft über Indien angefeuert. Der mohammedanische indische Finanzminister hat erst vor kurzem wieder erklärt, daß nur „Pakistan“ — der souveräne, die islamitischen Gebiete Indiens umfassende Staat — die Wünsche der Liga befriedigen könne, während der Gesundheitsminister Raja Ghazanba Ali in einer Rede sogar das Gedenken an die Zeit wachrief, da einige Tausend gut disziplinierte mohammedanische Soldaten ganz Indien unterworfen hätten. Die Lage ist in diesem Punkte für England besonders heikel, da ein ernstlicher Konflikt mit den indischen Moslems unliebsame Rückwirkungen auf die arabische Welt haben, und die ohnehin schwierige Lage in Ägypten und im Nahen Orient zur Folge haben könnte. Schließlich ist nicht zu übersehen, daß Pakistan selbst mit neunzig Millionen Einwohnern weitaus der stärkste mohammedanische Staat der Welt sein würde.

Die Pläne der Kabinettsmission sind gescheitert. Es konnte wohl eine Interimsregierung gebildet werden, die unter Nehrus Führung acht Hindus und zwei Moslems umfaßte. Aber die Moslemliga führte ihren Kampf für die Teilung Indiens radikal weiter. Über die Frage der Notwendigkeit einer Strafexpedition an der stets unruhigen Nordwestgrenze Indiens brach die offene Fehde aus. Wiewohl die Interimsregierung ängstlich bestrebt ist, die dortigen Stämme großzügig zu behandeln, sah sie diese Maßnahme als unerläßlich an. Die beiden mos-lemitischen Minister lehnten die Aktion ab. Die Majoritätspartei erhob formell beim Vizekönig Beschwerde, daß die Liga wohl die konstituierende Versammlung boykottiere, andererseits aber an der Regierung teilnehmen wolle, ohne an den gemeinsamen Verantwortungen zu partizipieren. Die Minister der Moslemliga erklärten in den schärfsten Formen, sie seien nicht gewillt zurückzutreten und warfen, vielleicht nicht mit Unrecht, ihren Gegnern vor, diese wollten sie majorisieren. Der Unwillen wandte sich gegen den Vizekönig Lord Wawell, welcher die Kongreßpartei über die Voraussetzungen, unter denen Jinnah an der Regierung teilnehmen wolle, nicht richtig informiert habe.

Jedenfalls wurde seiner Mitteilung an Nehru, die Liga habe den Plan der britischen Kabinettsmission angenommen, durch die Ereignisse widersprochen. Zudem erklärte ihn die Kongreßpartei, ungeachtet seiner von ihr anerkannten Rechtlichkeit und Integrität für keinen verhandlungstechnisch geeigneten Vermittler. Lord Wawell wieder legte die Frage in London zur Entscheidung vor.

Dieser Konflikt hat eine höchst überraschende Lösung gefunden. Die britische Regierung hat ihren Entschluß erklärt,- die britische Regierungsgewalt in Indien auf alle Fälle bis Juni 1948 zu übergeben, eine Entscheidung, die man auf eine Anregung Sir Stafford Cripps' zurückführt. Sie will dadurch die beiden großen indischen Parteien zwingen, sich untereinander zu einigen — den Sinn für Verantwortung durch die Festsetzung eines klaren und nahen Termins wecken. Aber, an w e n soll die Macht übergeben werden, wenn sich diese Hoffnung nicht erfüllt? Und was soll in diesem Falle aus dem Riesenreich werden? Wird es nicht den Schrecken des Bürgerkrieges verfallen und werden die ungeheuren britischen Interessen in Indien gewahrt bleiben?

Pandit Nehru hat die britische Entscheidung begrüßt und enge und freundschaftliche Beziehungen zum britischen Volke angekündigt. Doch sind alle indischen Führer über die plötzliche Entscheidung der englischen Regierung überrascht.

Jinnah hat in einer Rede erklärt, die Lifi weiche keinen Zoll breit von ihrer Forderung nach einem unabhängigen Pakistan. Die Lage ist vorläufig ungeklärt und daß sie auch von englischer Seite nicht ohne Vorbehalt betrachtet wird, zeigt die Ernennung Lord Mountbattens zum Vizekönig von Indien, bei der verlautete, sie sei erfolgt, da er zu den indischen Truppen der von ihm befehligten, früher erwähnten vierzehnten Armee, vorzügliche Beziehungen unterhalten hätte. Er wird sein Amt nicht in der traditionellen Hoftracht, sondern in seiner Uniform als Konteradmiral antreten.

Die Gestaltung der Beziehungen zu dem neuentstehenden, souveränen Indien, ist für das Empire von größter, ja entscheidender Wichtigkeit. Indien ist der einem feindlichen Druck zunächst ausgesetzte Scheitel eines Bogens, dessen beide Enden Südafrika und Australien bilden. Je eine Kette von Stützpunkten läuft vom Mutterland durch das Mittelmeer und rund um Afrika nach Indien. Die Sicherung des Seeweges nach Indien war stets ein Angelpunkt der englischen Politik.

Ein Austritt Indiens aus dem Empire würde diese macht- und verkehrspolitische Kette an ihrer entscheidenden Stelle schwächen, den Weg nach dem Fernen Osten blockieren können. Eine feindselige Haltung Indiens könnte auch die britisch Position an der Ostküste Afrikas, wo die indische Immigration sehr bedeutend und ihr Einfluß im Handel erheblich ist, erschweren.

Reiht sich Indien nicht dem elastischen und doch so bewährten Verband der britischen Nationen in Ubersee ein, so steht dieses, auf die blutsverwandten Dominien und die afrikanischen Besitzungen gestützt, noch immer gebietend da. Aber es hätte ein höchst wichtiges und einflußreiches Glied verloren. Vorläufig darf min aber die natürliche, langerprobte und von der Mehrzahl der Inder selbst gewünschte weitere freundschaftliche Bindung des neuen Indiens zum britischen Imperium nicht als fraglich ansehen.

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