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Südasien: Die Massen erwachen

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Das Jahr 1984 wird für den indischen Subkontinent politisch von entscheidender Bedeutung sein. In Indien, Pakistan und Bangladesh stehen Wahlen vor der Tür. In Nepal und Sri Lanka drängen Minderheiten auf Systemveränderungen. Dazu kommtder Einfluß der Großmächte.

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Das Jahr 1984 wird für den indischen Subkontinent politisch von entscheidender Bedeutung sein. In Indien, Pakistan und Bangladesh stehen Wahlen vor der Tür. In Nepal und Sri Lanka drängen Minderheiten auf Systemveränderungen. Dazu kommtder Einfluß der Großmächte.

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Die politische Stabilität Südasiens ist einem langsamen Zerfall ausgesetzt. Dies zeigt sich am besten in Indien, der dominierenden Macht in der Region. Gerade an der „größten Demokratie der Welt", erst 35 Jahre jung und von vielen als Musterbeispiel nachkolonialer Entwicklung dargestellt, nagt der Zahn der Zeit. Der Wandel ist nach außen nicht sichtbar.

Die Statistiker kennen Indien weiterhin als zehntgrößte Industrienation und als Selbstversorger bei den Nahrungsmitteln. Die Armut, so die indische Version, ist eine Folge ungenügender Transportkapazitäten und dafür ist die Ausdehnung des Landes über eine Fläche von drei Millionen Quadratkilometern verantwortlich.

Die Zersetzung der politischen Strukturen in Indien ist denn auch kaum wirtschaftlich bedingt. Indiens politische Aktivität beschränkt sich auf eine soziale Ebene, die in den letzten fünfzehn Jahren geradezu wohlhabend geworden ist. Und wenn es mit der Politik trotzdem bergab geht, dann deswegen, weil für die Ökonomen die achtziger Jahre zählen, die Polit-Strategen aber 1948 stehengeblieben sind.

Nach wie vor ist die Kongreß-Partei am Ruder, und mit derselben Machtstruktur wie in den 50er Jahren. Nur sind die Grundmauern dermaßen brüchig, daß das Gerüst jederzeit zusammenbrechen kann. Vielleicht 1984, vielleicht erst in zehn Jahren.

Die reinen, noch in den Zeiten Nehrus geschmiedeten Interessengemeinschaften zwischen Delhi und dem Landadel sind an ihren Egoismen gescheitert. Der Hunger nach mehr Macht, zusammen mit der zeitlichen Distanz zu 1947 und dem Verlust der damaligen Ideale, führte zur Spaltung zwischen Zentrum und Mittelstand. Der rasche persönliche Vorteil, das Anhäufen von Privilegien und Kapital, wurde zum einzigen Kriterium vieler Regionalpolitiker. Der weite Weg nach Delhi stand dem entgegen.

Aber auch die politische Elite zeigte Zerfallserscheinungen. Sie war nicht mehr bereit, sich zu arrangieren. Delhi erteilt Befehle, und wer nicht gehorcht, wird durch Loyalisten ersetzt. Die Symptome zeigten sich erstmals 1965, bei Amtsantritt Indira Gandhis.

Dem Zusammenbrechen der alten indischen Polit-Strukturen folgte auch keine Neuordnung. Der jetzige Zentralismus stützt sich auf Diktate und Schmiergelder. Nur im Dorf draußen, wo das politische Vakuum am meisten spürbar ist, sind in den letzten Jahren neue Wertmaßstäbe zur Anwendung gekommen.

Durch die Konfrontation mit ausländischen Entwicklungs-Schemen und einheimischen Sozialarbeitern ist die indische Masse erwacht und hat sich zu Interessengruppen formiert: der Eingeborene verlangt die verlorengegangenen Waldrechte zurück, der Landlose drängt auf Durchführung der schubladisierten Landreform, der Kleinbauer will direkten Zugang zum Markt und der Arbeiter eine zeitgemäße Entlohnung.

Alle diese Forderungen gingen früher im feinen Polit-Gewebe zwischen Stadt und Land verloren. Nun fehlt dem Landadel nicht bloß der politische Rückhalt von oben, hilflos ist er der Revolte seiner bisherigen Knechte ausgesetzt.

Auch der Regierungsspitze fehlen Apparat und Mittel, um die neuen Interessen-Minoritäten in Zügel zu halten. Dubiose Machenschaften bleiben ihr letzter Rettungsanker: 1975 der Ausnahmezustand gegen die zunehmende Arbeiterunruhe, Bestechungstaktiken quer durch die Landschaft, Anzettelung von regionalen Konflikten, um mit harter Hand zurückzuschlagen und schließlich das Spiel mit dem Glauben durch falsche Gottesmänner und Wahrsager.

Indiens Masse ist erwacht, schürt Interessenstreits und bringt die Politik durcheinander. Eigentlich müßte man meinen, der Subkontinent würde demnächst in Flammen stehen. Ob der Kongreß, mit dessen Hilfe Indira Gandhi das Land und die meisten Bundesstaaten regiert, 1984 die parlamentarische Mehrheit zurückgewinnt, ist offen.

Und doch steht bei der indischen Premierministerin das Feuer noch nicht im Dach. Ihre Bevölkerungsmehrheit war nicht nur lange rechtlos, sondern auch apolitisch. Außer Mahatma Gandhi kannte sie nie einen eigenen Führer. Indien gruppierte sich deshalb um kulturelle statt politische Werte.

Dies ändert sich, die sozialpolitische Bewußtseinsbildung braucht jedoch Zeit und hat die Massen noch nicht in Bewegung setzen können. Immerhin: 1977 reagierte der indische Stimmbürger auf die Unterdrückung der neuen Freiheiten und schickte Frau Gandhi ins Exil—und er holte sie 1980 zurück, nachdem sie die letzten Reste ihres Partei-Apparats in Funktion gesetzt hatte.

Auch diese haben seither ausgedient, und Frau Gandhi bleibt nur die Hoffnung, daß die kulturellen Traditionen, die Bindungen an Glaubensgemeinschaften, das Verharren ihres 700-Millionen-Volkes in ideellen Sphären seine Empfindlichkeit für das politische Vakuum noch ein paar Jahre dämpft. Solange bleibt Indien von der Revolution, nicht aber von der Evolution, unberührt.

Was für Indien gilt, kann mit marginalen Abweichungen auch für den entwicklungspolitischen Prozeß in ganz Südasien gesagt werden. Die Bewußtseinsbildung bei den unteren Schichten ist hier noch jüngeren Datums. Und doch braucht es in Pakistan und Bangladesh bereits Militärjuntas, um den sozialen Bruch zu verhüten. Mit dem Resultat, daß sich die entrechtete Landschaft mit der Stadtelite verbündet, um die Offiziere zu vertreiben.

Ob die Regimes in Islamabad und Dhaka den Versuch zum Kompromiß, inklusive nationale Wahlen irgendwann 1984, ohne Gewaltanwendung überleben, ist eine offene Frage.

In Sri Lanka und Nepal herrschen zwar zivile Regierungen. Doch in Colombo stützt sie sich auf sinhalesische Fanatiker, die die tamilischen Brüder blutig verfolgen. Eine reguläre Demokratie gibt es hier kaum mehr.

In Nepal wiederum, dem letzten Hindu-Königreich, zwingt der Entwicklungsrückstand zur totalen Fremdhilfe. Die stolze Hima-laya-Monarchie schreitet in den Spuren der Kapitalleiher. Und diese wollen Stabilität, nicht Fortschritt. Das Ausland spielt auch im übrigen Subkontinent seine Rolle, wirtschaftlich und militärisch. Doch die internen Entwicklungen lassen sich meist nicht mehr aufhalten, auch bei General Zia ul-Haq nicht, den die Amerikaner bis an die Zähne bewaffnen. Ausgerechnet sein Thron wackelt am stärksten.

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