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Indira und der Mahatma

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Mahatma Gandhis Geburtstag, Nationalfeiertag in Indien. Das Notverordnungsregime der Nehrutochter Indira Gandhi, die amtliche Erbschaftsverwaltung des Mahatma, wollte diesen Festtag groß begehen. Jaya Prakash Narayan und Moraju Desai sollten aus der Haft entlassen werden — unter Bedingungen. Die in Gefangenschaft gehaltenen Führer der demokratischen Opposition nahmen die an Bedingungen gebundene Gnade der Herrscherin nicht an. Zehntausende sind ja noch in Haft; neben den tau-senden Maokommunisten, die seit Jahren in den Kerkern faulen. Denn der Ausnahmezustand bleibt in Kraft.

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Mahatma Gandhis Geburtstag, Nationalfeiertag in Indien. Das Notverordnungsregime der Nehrutochter Indira Gandhi, die amtliche Erbschaftsverwaltung des Mahatma, wollte diesen Festtag groß begehen. Jaya Prakash Narayan und Moraju Desai sollten aus der Haft entlassen werden — unter Bedingungen. Die in Gefangenschaft gehaltenen Führer der demokratischen Opposition nahmen die an Bedingungen gebundene Gnade der Herrscherin nicht an. Zehntausende sind ja noch in Haft; neben den tau-senden Maokommunisten, die seit Jahren in den Kerkern faulen. Denn der Ausnahmezustand bleibt in Kraft.

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So feiern zwei Indien den Geburtstag des Mannes, für den die Einheit des Subkontinents und die Freiheit eines demokratischen Indien unteilbar waren. Das eine Indien errichtet hinter der Fassade einer gandhistischen Staatskirche seinen Polizei- und Kontrollstaat. Das andere Indien leistet mit den Waffen des Mahatma, Gewaltlosig-keit und Unbeugsamkeit, Widerstand. Denn der Riß zwischen dem autoritären Regime und seinen Gegnern ist seit der Proklamation vom 26. Juni nicht zugewachsen, sondern zur unüberbrückbaren Kluft geworden. Die Brücke, die Indira vielleicht schlagen möchte, kann es flicht geben. Zwischen gandhistischer Gesellschaftsidee und indischer Machtpolitik ist der Bruch endgültig.

Die Loyalität der alten Gandhia-ner J. P. Nerayan und Moraji Desai zu ihren Prinzipien und zu ihren Mitkämpfern brachte das Regime um den Festtagstriumph. Die Hoffnung,' Gandhis Geburtstag im Geiste seiner Menschlichkeitsgebote und dennoch unter den Schirm des Aus-

Indira: Alkoholverbot statt freier Presse Photo: Schimke nahmezu-.andes zu feiern, war verflogen. Man bedurfte eines anderen Siegels, das die Erbwürdigkeit und die Legitimität der Indira Gandhi bestätigt. Kurz vor der Feierlichkeit verkündete die Herrscherin, daß ein Glaubenssatz im ungeschriebenen Glaubensbuch des Mahatma nunmehr Unionsgesetz werde: die Prohibition.

Die beiden Führer, die Gandhis Geburtstag in ihren Gefängnissen feierten, und mit ihnen tausende andere, waren immer Vorkämpfer der Prohibition gewesen. Moraji hatte sie in Bombay erzwungen. Jaya Prakash ist ein Akest. Jetzt aber erscheinen ihnen andere Glaubenssätze des Mahatma wichtiger. „Ihr sollt euch nicht auf Polizei und auf Militär stützen“, riet der Mahatma 1947 in seiner Zeitschrift „Harijan'^ der ersten Regierung des freien Indien. „Demokratie ist mit Polizei- und mit Militäreinsatz unvereinbar.“ Und am Beginn seines Kampfes, 1922, schrieb er in „Young India“: „Redefreiheit heißt, daß sie unantastbar sein muß, selbst wenn sie schmerzt. Pressefreiheit heißt, daß die Zeitungen vorbehaltlos frei sein müssen, selbst wenn sie Bilder verzerren.“ Und am Abend vor der unangemeldeten Kundgebung der Opposition sagte mir Umarshankar Jori, Rektor der Universität von Ahmedabad, bis er sich an die Spitze der Studentenrebellion gegen die Korruption der Kongreßpartei stellte: „Sie glaubt, daß sie mit einem Alkoholverbot das Verbot der freien Rede und des freien Wortes aufwiegen kann. Wie weit hat sie sich vom Mahatma entfernt! Wie wenig hat sie ihn verstanden!“

Von 5 Uhr morgens pilgern heute die Menschen zum Raj Ghat, der Gedächtnisstätte des Mahatma am Ufer des Jamuna. Der Monsun hat in diesem Jahr viel Regen gebracht, als ob er für die Trockenheit der vergangenen Jahre und für die Trockenheit kommender Jahre trösten wollte. Der Fluß ist breit und ungebärdig. Die Bäume werden bald im Wasser ertrunken sein. Die Verbrennungsstätten sind überflutet. Raj Ghat ist schwarz von. Menschen, unter der schweren Feuchtigkeit vergangener Regenschauer. Der Morgen ist die Zeit des offiziellen Feierns, der offiziellen Demut. Die Großen tragen Dhotis aus handgewebtem Leinen. Mahatma Gandhis symbolische Bauernkleidung ist zur Uniform der Heuchelei geworden. Die Kleinen halten sich sorgfältig in ihren • Guppen, den Parteiorganisationen, Betriebsverbänden, Dorfgemeinden; still, etwas verängstigt; viele beten: Enterbte am Grab ihres Vaters.

Abends sammelt sich die Opposition im Raj Ghat. Die Verständigung ist von Mund zu Mund gegangen und sie sind aus ihren Wohnungen, durch Nebenstraßen hierhergekommen. Die Angst, beschattet zu werden, sitzt bei ihnen schon tief. Es ist ein Bekenntnis gegen das Regime, ein Anfechten der Erbberechtigung der heutigen Machthaber, und es ist ein Risiko, an diesem Abend im Raj Ghat zu sein. Die Polizeiverbände vor den Toren sind nicht stärker, als sie am Morgen, während der offiziellen Feiern gewesen sind. Doch ihre Haltung ist anders. Und unter den Festgästen des Abends findet man diese gedrungenen Gestalten und Typen, die einander überall, und in jeder Kleidung,, ob Steirergewand oder Dhoti, ähnlich sind.

Die Stimmung ist verhalten, als ob das Red Ford, die Burg der Moghul-Könige, auf sie wartete. Doch die Sorge geht um die anderen, in den anderen Städten. Unzählige Satya-grahas, Demonstrationen des gewaltlosen Widerstandes sind für diese Feiertage in vielen Städten, in Gujarat, in Mahastra und im aufgewühlten Paradies von Polizeiterror und Kongreßfeudalismus, Bihar, angesagt worden. Wo ist die Demonstration gelungen? Wie viele sind wieder in Gefängnissen verschwunden? Doch die hier den Atem anhalten, weil sie sich sorgen, wie es den anderen ergeht, werden es lange Zeit nicht, oder nie erfahren.

Das Regime, sonst ein „Absolutismus, durch Schlamperei gemildert“, errang einen großen Erfolg. Die eine Stadt wurde von der anderen, das eine Dorf vom nächsten isoliert. Nur Indiras Regime, ihre Partei, ihre Apparate überblicken die riesige Union. Die Zensur hat die Kontrolle über die Union zu einem Monopol des Zentrums gemacht und allen anderen die Möglichkeit der Kommunikation genommen. Doch es zeigt sich, daß man selbst mit diesem Erfolg den Widerstand zwar lokalisieren, isolieren, doch nicht unterbinden, nicht abwürgen kann. Es ist ein indischer Widerstand und ich habe in diesen Monaten des Ausnahmezustandes zu verstehen begonnen, wie der Hinduismus die fremden Herrscher und die fremden Systeme überleben konnte. Die Überlebensweisheit des Hinduismus war auch, der Kern der Taktik, durch die Mahatma Gandhi dem Kolonialregime fast gewaltlos den

Teppich unter den Füßen fortgezogen hat.

Ich habe in vielen Diktaturen die ersten Monate nach der Liquidierung der Demokratie erlebt. Die Menschen waren entgeistert, von der Macht und ihrer Brutalität wie gebannt, von der Pantomime der neuen Disziplin und der neuen Ordnung beeindruckt. Der Geist des Widerstandes erwacht immer erst später, wenn die Diktatur ihr Brautkleid abgelegt hat.

Hier aber folgte der Nacht, in der Indira und ihre Berater die Demokratie mit der Proklamation des Ausnahmezustandes abgeschafft hatten, erst eine Zeit der Trauer. Viele Menschen trauerten, wie nach einem, den man zeit seines Lebens kaum beachtet hat, doch ohne den man jetzt nicht leben möchte. Aber nach überraschend kurzer Zeit regte sich der Geist des Widerstandes. Erstaunlich viele sind bereit, ihrem Gewissen, das demokratisch ist, zu folgen und die Folgen auch zu tragen. Aktionen setzen ein. Die Studenten der Nehru-Universität, eines Instituts der neuen Elite, sreikten vor dem 2. Oktober. „Hindustan Times“ streikten. Journalisten und Arbeiter streikten.

Doch diese Aktionen entstehen meist spontan und bleiben immer lokal. Zwischen den Aktionsherden steht nicht nur die Mauer der Regierungszensur, stehen die großen Distanzen mit fast unüberwindlichen Telephonschwierigkeiten, sondern auch der Individualismus der Menschen, ' die Organisationsfeindlichkeit der Gesellschaft. Jeder ist seine eigene Widerstandsbewegung. Tausende sind in den Städten aktiv und in den Dörfern rühren sich relegierte, zurückgekehrte Studenten. In kleinen Gruppen schließen sie sich vielleicht zusammen, zu fünft oder zu zehnt. Und sie verschaffen sich Abziehapparate, oder sie arbeiten des Nachts in Druckereien, die ihren Freunden gehören. Dutzende von Untergrundzeitüngen in allen Sprachen der Union, Tausende von Flugblättern werden verteilt. Doch jedes ist mit seinem eigenen Satyagraha vollauf beschäftigt.

Da lernte ich verstehen, wie der Widerstand hier immer gewesen ist, wie der Hinduismus, ohne eine einzige Revolution, ohne eine Rebellion, mit Ausnahme des religiösen Sepoy-Aufstandes von 1857, tausend Jahre fremder Herren und fremder Systeme überlebt hat:

Eine amorphe Masse, ohne horizontale Organisation, überhaupt ohne Organisation außer der feudalen, wichen die Hindus zurück, wenn ein fremder Herr seinen Stiefel auf ihre Erde setzte und bedeckten sofort wieder den verlorenen Boden, sobald der Fremde seinen Fuß nur etwas anhob.

Abends, bei der Feier der Opposition, sah ich einige, die ich am Morgen bei der Feier der Offiziellen gesehen hatte. Unter ihnen Männer in Dhotis, nur war das Leinen vergilbt, ausgefranst, löchrig, Bauern waren von weither in Autobussen und in Lastautos zur offiziellen Feier gebracht worden. Einige kamen abends zur inoffiziellen wieder, unter ihnen Männer aus Utar Pradesh. Sie werden spät in der Nacht von Delhi abreisen und nach zwei Tagen des Morgens in ihrem Dorf ankommen.

In Utar Pradesh gab es im Meer des gewalttätigen Feudalismus eine selbstbewußte Bauern bewegung. Verfolgt, immer wieder behördlich aufgelöst, und jetzt, unter dem Ausnahmezustand endgültig verboten. Mit Verwandten aus der Stadt und mit Parteifreunden kamen sie in der

Dämmerung in das Raj Gath. Der Ausnahmezustand hat im Dorf nie die Fassade von Gerechtigkeit und Ordnung gehabt, sondern wurde so-^ fort ein Schutz für die Dorf gewaltigen. Der Führer der Gruppe, der Indiras Erbfeind, George Fernande, im Untergrund aufgesucht hatte, sagte:

„Wir sind am Abend gekommen, um von Mahatma Abschied zu nehmen. In diesem Staat kann der Mahatma nicht sein. Wird es anders, dann werden wir die neue Demokratie bei ihm begrüßen. Seine Botschaft vom Spinnrad ist die Selbstregierung des Dorfes, die Demo-katie in Indien.“

Am Abend nach der Feier gab mir ein Student der Nehru-Universität ein Buch des sozialistischen intellektuellen Individualisten Dr. Lohia. In diesem Buch las ich den Epitaph auf diesen Tag: „Die Regierung, der Gandhi zur Macht verhalf, will den gewaltlosen Widerstand töten, den revolutionären Kern seiner Lehre. Niemals vorher hat das Kind so fürchterlich das Innerste seiner Mutter zerstört Niemals hat eine Idee, zur Regierungsgewalt geworden, so sehr verleugnet, was sie als Idee der Opposition bedeutet hat. Die Stunde seines Triumphes war die Stunde seiner tiefsten Demütigung.“

Gandhi wußte, wie es kommen wird. Er wollte die Partei, die seinen Geburtstag feierte, am Tag der Freiheit Indiens auflösen. Sie zog es vor, die Partei des diktatorischen Regimes zu werden. BW-*.-

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