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Verhaftung, Enthaftung und ein unregierbarer Koloß

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Am 3. Oktober ist Indira Gandhi verhaftet worden. Am Morgen des 4. Oktober war sie wieder auf freiem Fuß. Der Untersuchungsrichter hatte entschieden: „Das Beweismaterial rechtfertigt nicht eine Anklage, geschweige denn eine Haft.“ Die Berufungsinstanz verwarf den Rekurs des Innenministeriums diverser Formfehler wegen. Innerhalb der Regierung und der Regierungspartei verstärkte dieses Debakel die Zerfallserscheinungen. Nur die Entschlossenheit, eine solche Niederlage nicht hinzunehmen und nunmehr stichhältigeres Material gegen die Indira zu sammeln, wirkte als vereinende Kraft.

Mit der fehlgeschlagenen Haftaktion schenkte die Regierung ihrer Feindin einen Triumph. Überall wurde die

Frage laut: Wird Indira wiederkommen? Regierung und Regierungspartei befinden sich, sechs Monate nach ihrem Wahlsieg über die Diktatur, auf einem Tiefpunkt. Doch Indira kann ihren Triumph nicht in bare politische Münze umsetzen. Ihre Kongreßpartei ist nämlich noch zersplitterter als die regierende Janata. Es gibt, außer den Linkskommunisten, die im Bundesland Westbengalen regieren, in Indien keine einigermaßen kohärente, funktionierende Partei. Deshalb die Warnung des J. P. Narayan (Gründungsvater der Janata und „Gewissen Indiens“) und des Ministerpräsidenten Morarji Desai. Der Zerfall der Regierungspartei wäre eine Katastrophe für Indien.

Deshalb waren nicht Indiras Haft und Haftentlassung das wahrhaft Erschütternde, sondern die Teilnahmslosigkeit, mit der 600 Millionen Menschen das Geschehen hingenommen haben. Sechs Monate nach ihrer euphorischen Wiedererweckung hat die Demokratie bereits ihre Faszination verloren. Die Hoffnungen auf die große Veränderung, die nun schon dreißig Jahre seit dem Tag der Unabhängigkeit auf sich warten läßt, haben sich wieder in Zynismus und Lethargie aufgelöst.

Als nach dem Wahlsieg vom 16. März die neue Regierung gebildet wurde, war der Ministerpräsident 81 Jahre alt und die Regierungspartei das Ergebnis einer Fusion von fünf Parteien. Das Alter des Ministerpräsidenten und der unter der indischen Sonne dahinschmelzende Bindestoff führten dazu, daß Janata eine Art von Dachverband wurde, in dem die Parteien nicht nur um die Hegemonie, sondern auch schon um die Nachfolge kämpften.

In Indien ist politische Einheit immer nur die kurzlebige Ausnahme, schillernder Partikularismus hingegen das Normale. Weder die moderne Politik, noch der gemeinsame Kampf gegen das Indira-Regime konnten diese fatale Tradition brechen. Der

Übergang der Janata von der Opposition zur Regierung war zugleich auch der Übergang aus der kurzlebigen Einheit des Widerstands zum altgewohnten Cliquenkampf um Macht und Pfründen.

Außer der gemeinsam erlittenen Verfolgung haben die fünf Janata- Elemente nur einen vagen Gandhismus gemeinsam. Mahatma Gandhis Bekenntnis zur Dorfgemeinde und zur dörflichen Kleinwerkstätte als dem Wesen und der Zukunft alles Indischen ist aber längst zu einer unverbindlichen Litanei geworden, Gandhis Gewand aus Handwebe zur Uniform der Heuchelei.

Schon im Sommer verwandelte die fühlbare Abkehr der Massen von dem Ergebnis ihrer eigenen Wahl die ursprüngliche Janata-Geste des großen Verstehens für den gefallenen Feind in eine konsequente Politik der Massenablenkung durch Enthüllungsserien über die Verbrechen der Indira. Innenminister Charan Singh ist vom Typ des „zürnenden Vegetariers“. Auf sein Betreiben wurde eine Kommission zur Untersuchung der Taten des verflossenen Regimes, das heißt: der Indira und der ganzen Familie Nehru, eingesetzt. Abgewählte Minister bezichtigen nunmehr ihre abgewählte Chefin, der Ursprung allen Übels gewesen zu sein. Als die Stimmung genügend angeheizt war, nahm der Innenminister die Gelegenheit wahr. Charan Singh kommt aus einer militanten Bauernkaste und aus einer aktivistischen Hindusekte und haßt mit der ganzen Innigkeit des Rechtschaffenen. Sein Haß gilt der Familie Nehru, den Kor- ruptionisten in der Höheren Bürokratie, der Industrie und der Großstadt Die Verhaftung der diktaturbelasteten Nehru-Tochter sollte ihn als den starken Mann der Regierung, als den Nachfolger des Moraiji Desai legitimieren. Die gleichzeitige Verhaftung des Erdölministers der Indira-Regierung, Malaviya, unter Hinweis auf „Bombay-Heigh“ sollte die Linke in der eigenen Partei aus dem Nachfolgekampf ausschalten.

In Bombay-Heigh werden Erdölbohrungen unternommen. Malaviya hatte sich für das französische Ange bot entschieden, obwohl das amerikanische Angebot um etliches tiefer lag: Bestechung, aber auch Antiamerikanismus sind als die Beweggründe impliziert, die Indira und Malaviya zur staatsschädigenden Entscheidung bewogen haben dürften. Malaviya gehörte der prosowjetischen Fraktion des Kongresses an. Aus demselben Stall kommt aber auch sein rechtzeitig zur Janata übergegangener Nachfolger Bahuguna.

Inzwischen stellte sich heraus, daß der inkriminierte Vertrag erst nach dem Regierungswechsel und vom neuen Janata-Erdölminister Bahuguna unterschrieben worden ist. Die Anklage gegen Malaviya mußte also später auch Bahuguna treffen und zur Ausschaltung der linken Rivalen um die Nachfolge fuhren.

Die Folgen der Affären berechtigen nicht zu der Hoffnung, daß endlich größeres Verantwortungsbewußtsein in der Regierungspartei Platz greifen könnte. Charan Singh ist beharrlich. Die Linke hat die Schlagrichtung richtig erkannt. Nur die Entschlossenheit, Indira Gandhi doch noch hinter Schloß und Riegel zu bringen, vereint die feindlichen Brüder. Charan Singh soll jetzt seine Anklage so fest zimmern, daß sie jedem Haftrichter standhält. Er hat am Tag nach dem Fehlschlag1 Staatssekretär Vohra verhaften lassen, den höchsten Beamten im Erdölministerium, der „Bombay- Heigh“ vorbereitet ünd zur Unterschrift vorgelegt hat Als Kronzeugen der Anklage? Gegen wen? Als Prügelknaben? Das verschlossene Gummigesicht des Charan Singh verrät nichts.

So schädlich diese ganze Farce für die Demokratie sein mag, so sehr verrät sie, wie wichtig die Entscheidung vom 16. März gewesen ist. Das Indira-Regime hat dem Gerichtswesen, als es immer seltener „genehme“ Entscheidungen fällte, die Souveränität entzogen. Das Janata-Regime wendet numehr alle Mittel der Manipulation an, um Entscheidungen in seinem Sinn zu erwirken. Aber es rüttelt nicht an der verfassungsmäßigen Souveränität der Gerichte, die es wiederhergestellt hat. Die größte Demokratie der Welt tut sich sehr schwer mit ihrem Landkoloß der fast unlösbaren Probleme.

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