Unumstrittene Demokratie im Land der Armut

19451960198020002020

Über 600 Millionen stimmberechtigte Inder wählen seit 5. September einen Monat lang die neue indische Regierung. Alle Prognosen sprechen von einem Sieg des amtierenden Premiers Vajpayee.

19451960198020002020

Über 600 Millionen stimmberechtigte Inder wählen seit 5. September einen Monat lang die neue indische Regierung. Alle Prognosen sprechen von einem Sieg des amtierenden Premiers Vajpayee.

Werbung
Werbung
Werbung

Nur 13 Tage lang war Atal Bihari Vajpayee im Frühjahr 1996 designierter Premierminister von Indien. Dann gab er den Auftrag zur Regierungsbildung zurück. Denn seine hinduchauvinistische Indische Volkspartei (BJP), die bei den Wahlen zwar mandatsstärkste Einzelpartei geworden war, die absolute Mehrheit aber klar verfehlt hatte, konnte keine Koalitionspartner finden. Die Front aller anderen Parteien hielt: Sie wollten der BJP gar nicht erst die Chance geben, ihre Hindu-Agenda zu verwirklichen.

Kurzlebige Koalitionen folgten. Als 1998 vorgezogene Neuwahlen ausgerufen werden mußten, war die BJP längst nicht mehr der Paria. Dafür war sie einfach zu stark geworden. Lieber mit ihr an der Macht als gar nicht an der Macht, schienen zahlreiche Gruppierungen zu kalkulieren. Mit mehr als einem Dutzend Partnern bildete die BJP erstmals die Regierung. Auch diesmal erwies sich die Zahl dreizehn als wenig glückbringend. Nach eben so vielen Monaten kehrte eine Partei Vajpayee den Rücken, der Premier verlor eine Vertrauensabstimmung im Parlament mit nur einer Stimme. Wieder wurden vorgezogene Neuwahlen angesetzt. Sie werden wie immer aufgrund der großen Zahl der Stimmberechtigten gestaffelt an mehreren Tagen zwischen dem kommenden Sonntag und Anfang Oktober ausgetragen.

Geschmähter Favorit In diesen Urnengang nun geht Vajpayee nicht mehr als der Geschmähte, auch nicht als einer, um den man einfach nicht herumkommt, sondern als der absolute Favorit und mit 21 Koalitionspartnern in der Nationalen Demokratischen Allianz (NDA). 50 Prozent der Inderinnen und Inder wollen laut einer Umfrage des angesehenen Wochenmagazins "India Today" Vajpayee wieder als Premier, der NDA wird eine klare absolute Mehrheit vorausgesagt.

Ist die BJP also respektabel geworden, die Angst vor ihr verloren gegangen? Derartige Schlußfolgerungen sind nicht angebracht. Zum einen sind die Stimmen der Warner nicht verstummt. Den Traum, zumal der radikalen Kräfte innerhalb der Partei von einem Ram Raj, der Herrschaft des Hindu-Gottes Ram, teilt bei weitem nicht die Mehrzahl der indischen Wähler. Ihnen ist der Erhalt des säkularen, demokratischen Charakters ihres Landes auch weiterhin ein wichtiges Anliegen. Sie wollen kein Reich der Hindus, sondern eine Gesellschaft, in der alle Religionsgruppen friedlich neben- und miteinander leben können. Zum anderen hat die BJP, um bündnisfähig zu bleiben, große Zugeständnisse machen müssen.

Vor allem Vajpayee ist es zuzuschreiben, daß die BJP diesmal auf ein eigenes Wahlprogramm verzichtet und nur am gemeinsamen der NDA mitgewirkt hat. Dort aber werden zentrale Interessen der BJP - allen voran die Errichtung eines Ram-Tempels anstelle der 1992 von fanatischen Hindus zerstörten Moschee von Ayodhya - unter der Rubrik "strittige Themen" auf Eis gelegt. Parteimitglieder, die dagegen Protest einlegten, verwies der Premier in die Schranken.

Nicht vergessen hat die indische Bevölkerung auch die schweren Übergriffe gegen die kleine Minderheit der Christen (2,5 Prozent der eine Milliarde Einwohner, 82 Prozent sind Hindus, 12 Prozent Muslime) im vorigen Jahr. Kirchen und Friedhöfe wurden geschändet, Nonnen vergewaltigt, Bibeln zerstört und ein australischer Missionar mit seinen beiden Söhnen getötet. Als Höchstrichter jüngst zu dem Schluß kamen, daß dieser Mord zwar Fanatikern zuzuschreiben sei, aber keine Verbindung zu einer politischen Partei hergestellt werden könne, gab es empörte Kommentare in den führenden Medien und Aufregung unter einem Teil der Intelligenz.

Gewalt gegen Christen Doch im Wahlkampf spielt das Thema keine Rolle. Umfragen haben vielmehr ergeben, daß die meisten Inder mit den Beziehungen zwischen den Religionsgemeinschaften unter der bisherigen Regierung Vajpayee zufrieden sind. Damit aber, betont der Autor und Kommentator Inder Malhotra, "meinen die Menschen in erster Linie das Verhältnis zwischen Hindus und Muslimen.

Die Christen, Parsen und andere kleinere Gruppen sind in ihrem Denken nicht so präsent, gibt es doch in der Regel mit ihnen keine gröberen Konflikte." Als "Verirrung" werde daher von vielen die Welle der Gewalt gegen die Christen abgetan, wobei dies natürlich vor dem Hintergrund der extrem blutigen jüngeren Geschichte des Subkontinents zu sehen sei.

Zwischen Hindus und Muslimen aber hat es, abgesehen von einigen kleineren Zwischenfällen, keine Ausschreitungen im vergangenen Jahr gegeben. Viel schlimmer ging es da immer wieder unter Kabinetten der Kongreßpartei her, die Indien 45 der bisher 52 Jahre Unabhängigkeit regierte. Auch als die Moschee von Ayodhya zerstört wurde, war der Kongreß, damals unter Premier Narasinha Rao, in Neu Delhi an der Macht.

Hätten die Wahlen sofort nach dem von Vajpayee Mitte April verlorenen Vertrauensvotum stattgefunden, wären er und seine BJP vermutlich vor einigen Schwierigkeiten gestanden. Doch die Vorbereitung eines Urnengangs benötigt Zeit und in dieser eskalierte erneut der Konflikt um die zwischen Indien und Pakistan geteilte Himalaya-Region Kaschmir, um die die beiden Nachbarn bereits zwei Kriege geführt haben. Neu-Delhi warf Islamabad vor, reguläre Truppen über die Waffenstillstandslinie geschickt zu haben, Islamabad sprach von Freiheitskämpfern, über die es keine Kontrolle habe. Nach wochenlangen verlustreichen Kämpfen machten die USA Druck auf Pakistans Premier Nawaz Sharif, die Kämpfer zum Rückzug zu bewegen. Seit Mitte Juli herrscht wieder eine von gelegentlichen Zwischenfällen durchbrochene Ruhe.

Sonia chancenlos?

Islamabad wie auch Neu-Delhi reklamierten den "Sieg" für sich. Die internationale Meinung stand diesmal aber klar auf Seiten Indiens, und im Land selbst löste der Erfolg einen neuen nationalistischen Taumel aus, von dem nun Vajpayee profitiert. Zur hervorragenden Ernte und dem guten Monsum hat der Premier zwar persönlich nichts beigetragen, sie schlagen sich aber, wie eine generell zufriedenstellende Wirtschaftslage, ebenfalls positiv zu Buche.

Dagegen kann Sonia Gandhi, Witwe des 1991 ermordeten früheren Premiers Rajiv Gandhi und seit 1998 Chefin der Kongreßpartei, nicht an. Ihre Kritik an der schweren Nachlässigkeit der Regierung, die die Invasion aus Pakistan erst möglich gemacht habe, kommt nicht recht an. Der Streit um Sonias italienische Herkunft und vor allem deren politische Unerfahrenheit haben dazu geführt, daß laut der erwähnten "India Today"-Umfrage lediglich 26 Prozent Sonia im Premiersamt sehen wollen. Da helfen auch nicht die Verweise auf die großen Leistungen der Nehru-Gandhi-Dynastie und auf die Opfer, die diese für das Land gebracht hat.

In den Wahlprogrammen sind dabei keine großen Unterschiede zwischen der NDA und der Kongreßpartei auszumachen. In beiden spielt Sicherheit eine große Rolle, werden Armutsbekämpfung und vermehrte Anstrengungen um Bildung und Gesundheitswesen zugesagt. Die 1991 vom Kongress eingeleiteten Wirtschaftsreformen sollen weitergehen.

Zwei-Blöcke-System Die Bildung der NDA nährt bei manchen Experten und Kommentatoren die Hoffnung, daß Indien nach langen Jahren von Alleinregierungen der Kongreßpartei und eher kurzlebigen Koalitionen nun, wenn nicht auf ein Zwei-Parteien-System, so doch auf ein Zwei-Blöcke-System zugehen könnte - mit einem Block um eine durch Bündniszwang gemäßigte BJP und einem anderen um den Kongreß. Doch Inder Malhotra bleibt skeptisch, zu groß sei noch die Fluktuation der jeweiligen Koalitionspartner, weniger freundlich formuliert "deren Opportunismus". Einige von denen, die noch vor wenigen Monaten auf Seiten der BJP waren, sind nun zum Kongreß oder anderswohin gegangen, frühere Kongreßpartner haben sich dagegen der NDA angeschlossen.

Bleibt die bange Frage, ob die BJP die Allianz nur benützt, um selbst stärker zu werden, mit dem Ziel, eines Tages allein regieren und dann ungehindert ihre Hindu-Agenda verwirklichen zu können. Vieles wird da von der BJP-Führung abhängen. Vajpayee selbst genießt im Land eine Popularität, die weit über die seiner Partei hinausgeht. Er gilt - je nach Interpretation - als das liberale Gesicht oder die liberale Maske der Partei. "Keine andere Persönlichkeit in der BJP wäre für so viele Wähler akzeptabel", betont Malhotra. Umfragen nach den letzten Wahlen hatten ergeben, daß nur eine geringe Zahl von indischen Wählern der BJP wegen ihrer Hindu-Agenda ihre Stimmen gegeben hatten. Die meisten waren einfach von einem korrupten und innerlich gespaltetenen Kongreß enttäuscht, wollten aber eine Aufsplitterung der Stimmen auf Dutzende kleine Parteien vermeiden, womit als einzig weitere große Partei die BJP blieb.

Doch wenn der heute 73jährige Vajpayee eines Tages nicht mehr da ist, "könnte nicht nur die NDA auseinanderbrechen", sagt Malhotra. Ein radikaler Parteichef und Spitzenkandidat würde die BJP wohl für viele, die sie nun wählen wollen, einfach unakzeptabel machen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung