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Nehrus Hand auf Kaschmir

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Schon während des zweiten Weltkrieges gab es unter den politisch führenden Männern Englands, und namentlich im sozialistischen Lager, nur wenige, die nicht erkannt hätten, daß die Tage der britischen Herrschaft in Indien gezählt waren. Unmittelbar nach dem Krieg, mit der Machtübernahme durch die Labour Party, wurde es zu einem offiziellen Ziel der britischen Regierungspolitik, den letzten dieser Tage so rasch als möglich herbeizuführen. Noch vergingen aber fast zwei Jahre, ehe der mit dieser Aufgabe betraute letzte Vizekönig in New Delhi, Lord M o u n t b a t tį e n, den fertigen Plan für die Liquidierung des indischen Kaiserreiches vorlegen konnte. Eine unerträglich lange Zeit für die nach Unabhängigkeit drängenden indischen Nationalisten, eine viel zu kurze Spanne aber, um die Versäumnisse von Dezennien nachzuholen und durch zielbewußte kulturelle Förderung der verschiedenen „Nationalitäten", das Wort im altösterreichischen Sinne gebraucht, also der vielen verschiedenen Sprachgruppen, und durch deren politischadministrative Organisation eine gesamtindisch föderative Lösung in die Wege zu leiten. So blieb angesichts des Fehlschlags aller Versuche, die tiefgreifenden, in einer vielhundertjährigen Geschichte verwurzelten Differenzen zwischen Hindus und Moslims zu überbrücken, kaum ein anderer Weg übrig als die Schaffung zweier indischen Staaten, getrennt durch eine Grenze, die soweit als möglich eine den tatsächlichen Verhältnissen entsprechende Scheidungslinie zwischen den beiden größten Glaubensgemeinschaften des Subkontinents bilden sollte. Die Landkarte zeigt die Monstrosität, die dabei entstanden ist: einen zweigeteilten Staat Pakistan, zwischen dessen beiden Hälften eine Wegstrecke von tausend Meilen durch fremdes und fast unverhüllt feindliches Hoheitsgebiet liegt. Was die Karte nicht zeigt, sind die unsagbaren Leiden der Millionen beiderseits der Grenze, die ihre Heimat verlassen mußten, um einer mitleidlosen Verfolgung als „Fremdgläubige“ zu entgehen; noch reden die letzten Ruhestätten weiterer Millionen, die in der Zeit, da jene „Glaubensgrenze“ gezogen wurde, blutigen Massakers zum Opfer gefallen waren, eine erschütternde Sprache.

Man mag der damaligen britischen Regierung zugute halten, daß sie, so kurz nach Kriegsende und infolge einer überstürzten Abrüstung, nur schwer die Kräfte hätte sammeln können, um auch nur in den Grenzzonen die ärgsten Ausschreitungen im Zeichen der Staatwerdung zu verhüten. Jedenfalls aber trifft sie der Vorwurf, daß sie auch dort nichts unternahm, wo die vorhandenen Machtmittel genügt hätten, um durch eine räumlich und zeitlich beschränkte Aktion eine in ihren schwerwiegenden Folgen voraussehbare Verletzung des Prinzips zu verhindern, auf dem der ganze Teilungsplan aufgebaut war: nämlich in Kaschmir.

Von den rund vier Millionen Quadratkilometern des indischen Subkontinents entfielen nach dem britischen Plan mehr als drei Viertel, mit damals 3 50 Millionen Menschen, auf den Hindustaat, später die Indische Union genannt; der Rest, ungefähr 930.000 Quadratkilometer mit etwa 70 Millionen Bewohnern, auf Pakistan. Aber der ihnen zugekommene Löwenanteil am indischen Boden war den Führern der allindischen Kongreßpartei, Jawaharlal Nehru und Rajendra P r a s a d an der Spitze, noch nicht umfangreich genug. Der Umstand, daß das früher unter britischem Schutz stehende nord- ostindische Fürstentum Jammu und Kaschmir noch nicht formell an Pakistan angegliedert war, wohin es nach dem religiösen Bekenntnis seiner Bevölkerung unzweifelhaft gehörte — fast 80 Prozent der Kaschmiri sind Mohammedaner, der Rest Sikhs und Hindus —, kam den neuen Herren in New Delhi sehr gelegen; denn wenn sie auch vom ersten Augenblick der indischen Unabhängigkeit an entschlossen waren, jenes durch seine strategische Lage äußerst wichtige Gebiet in die Hand zu bekommen, koste es, was es wolle, so schien es ihnen doch wünschenswert, einen offenen Krieg mit dem verhaßten Nachbarstaat nach Möglichkeit zu vermeiden.

Die Entwicklung in Kaschmir selbst bot ihnen bald Gelegenheit zu der geplanten „friedlichen Intervention“. Das Ende der britischen Machtstellung in Indien und die Erklärung des Maharadscha von Kaschmir, eines Hindu, sein Land der Indischen Union anschließen zu wollen, lösten auch im Herrschaftsbereich dieses Fürsten Unruhen aus, in deren Verlauf allein in dem vorwiegend von Sikhs bevölkerten Ostteil der Provinz Jammu mehr als 230.000 Moslims das Leben verloren. Zur Hilfeleistung für ihre bedrängten Glaubensbrüder fielen jetzt kampfgeübte Irreguläre — Angehörige der kriegerischen Bergstämme der pakistanischen Grenzgebiete — in Kaschmir ein, worauf der Maharadscha, um seinen Thron und seine persönliche Sicherheit besorgt, die Regierung in New Delhi formell um Schutz bat; mit dem Erfolg, daß unverzüglich starke indische Truppenverbände per Luft — eine Straßen-, geschweige denn Bahnverbindung zwischen der indischen Republik und Kaschmir bestand damals noch nicht — zur Stelle waren, die die Pakistani bis auf einen schmalen Grenzstreifen zurückdrängten und vier Fünftel des Fürstentums besetzten. Nicht genug damit, legte die indische Regierung gleich darauf, im Dezember 1947, wegen der angeblich von Pakistan verübten „Aggression“, Beschwerde beim Sicherheitsrat der UNO ein; was sie aber nicht verhinderte, der von der UNO eingesetzten Kommission zur Untersuchung und Beilegung des Streitfalles eine ersprießliche Arbeit unmöglich zu machen. Sie weigerte sich nicht nur, der Bestellung eines Schiedsrichters zuzustimmen, dessen Entscheidung sie sich zu unterwerfen hätte; sie lehnte es ebenso kategorisch ab, das Versprechen einzulösen, welches sie durch den Mund ihres Premierministers Nehru noch vor der Intervention in aller Form gegeben hatte — das Versprechen, die Kaschmiri selbst im Wege eines freien Plebiszits die Zukunft ihres Landes bestimmen zu lassen. Aber freilich, einen Vorbehalt hat Pandit Nehru ja damals gemacht: die Abhaltung des Plebiszits sollte erst „nach Herstellung des Friedens" erfolgen. Und zu einem „Krieg" ist es gar nicht gekommen, also war es wohl auch bei bestem Willen Indiens nicht möglich, durch „Herstellung des Friedens“ die erklärte' Voraussetzung für eine Volksbefragung zu schaffen ...

Nun, vor wenigen Tagen hat der indische Regierungschef die seit zehn Jahren latente Kaschmirkrise auf eine Art gelöst, die bei einem so prominenten Apostel des Anti- Imperialismus und der friedlichen Verständigung zwischen den Völkern einen höchst merkwürdigen Gegensatz zwischen dem, was er predigt, und was er tut, erkennen läßt. Am 26. Jänner hat er ohne Rücksicht auf den Willen der betroffenen Bevölkerung und in flagranter Mißachtung der Beschlüsse der UNO die Eingliederung Kaschmirs in die Indische Union proklamiert.

Aber ist damit die Krise wirklich gelöst und nicht vielmehr in ein neues, akuteres Stadium getreten? Für Pakistan ist die Frage, welches Schicksal den drei Millionen islamitischer Kaschmiri bereitet werden soll, zwar wichtig, aber doch nur von sekundärer Bedeutung gegenüber den buchstäblich vitalen Dingen, die hier in wirtschaftlicher Hinsicht auf dem Spiele stehen. Westpunjab, Pakistans Kornkammer, wird von fünf Strömen bewässert, deren Oberläufe, vom Himalaja kommend, indisches Gebiet oder den indisch besetzten Teil Kaschmirs durchfließen. Beim Indus, beim Jhelum und auch beim Chenab fällt das nicht ins Gewicht, da Ableitungen der Wässer im indisch kontrollierten Oberlauf entweder überhaupt oder doch für absehbare Zeit, nicht in Betracht kommen. Anders beim Ravi, der schon jetzt, knapp vor Erreichung pakistanischen Bodens, vier große indische Kanäle speisen muß, und, noch gefährlicher für Pakistan, beim Sutlej und dessen Nebenfluß, dem wasserreichen Bea's. Ein amerikanischer Irrigationsfachmann ersten Ranges, der frühere Präsident der Tennessee Valley Authority, D. E. Lilienthal, hat berechnet, daß nach Fertigstellung des großen Staudamms, der die Wassermassen des Sutlej dem Wüstengebiet der indischen Provinz Rajasthan zuleiten soll, zwei Millionen Hektar der fruchtbarsten pakistanischen Erde rettungslos verdorren müßten.

Die unbeschränkte Herrschaft der indischen Republik in Kaschmir bedeutet für die Lebensfähigkeit des Staates Pakistan und die Existenzgrundlage seiner Bevölkerung eine tödliche Gefahr. Aber der Annexionsakt vom 26. Jänner kann auch von der westlichen Welt nicht mit Gleichmut zur Kenntnis genommen werden. Denn es isf nicht ohne Belang, ob das Einfallstor des indischen Subkontinents in der Obhut eines Regimes bleiben soll, dessen Haltung gegenüber der kommunistischen Bedrohung des Weltfriedens immer wieder Anlaß zu ernsten Zweifeln gibt.

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