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Indiens Kaiser Josef

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„Mit seinem Tode ist eine Geschichtsepoche zu Ende gegangen“, sagte der indische Staatspräsident Radhakrishnan in seiner ersten Rede im Indischen Rundfunk nach dem Tode Nehrus.

Indiens Kaiser Josef ist tot. Durchaus vergleichbar europäischen Männern eines aufgeklärten Absolutismus, die im 18. Jahrhundert, am Vorabend der Französischen Revolution, darum rangen, durch eine Revolution von oben die Revolution von unten aufzufangen, ja zu überholen, hatte sich dieser indische Aristokrat, der Abkömmling von Kaschmir-Brahmanen, die, eine winzige Minderheit, eine große Mehrheit von Moslems überherrschten, als Lebensziel gestellt, einen Kontinent, Indien, aus dem Schlummer zu reißen und in einem Bruderbunde der erwachenden Völker in Afrika und Asien zu einer Nation 7.u bilden.

„England awake.“ England erwache. Schottland erwache. Amerika erwache. Religiöse und politische Er-weckungsprediger rufen das im 18. Jahrhundert in die englisch sprechende Welt hinein. Dieser Ruf wird Im 19. und frühen 2P. Jahrhundert auf dem Kontinent Europa aufgenommen: Italien erwache. Deutschland erwache. Das Juwel — sein Vorname Jawarharlal bedeutet eben dies — Nehru hat sieben Monate nach Adolf Hitler in Allahabad in Nordindien das Licht dieser Welt erblickt. Für Nehru beginnt die deutsche Geschichte mit Thomas Münzer, mit dem großen Antipoden Luthers, den kurz nach dem ersten Weltkrieg Ernst Bloch dem erwachenden politischen Bewußtsein in Deutschland vorstellte. Der indische Aristokrat Jawarharlal Nehru ist ein großer Sohn Europas gerade als Erbe von Europas sprengkräftigster, dynamischester und in hohem Sinne fragwürdigster Geistigkeit: es ist das Feuer der Utopie, eines revolutionären Chiliasmus, das in Thomas Münzer und in französischen Denkern der Zukunft im 19. Jahrhundert brennt, die Nehru kennen und lieben lernte, und die man in Mitteleuropa allzu leicht und allzu gern als „romantische Sozialisten“ abtut.

„Er war eine der größten Persönlichkeiten der Geschichte, und die Welt ist durch seinen Tod ärmer geworden. Er war ein großzügiger Mann, der nie das geringste persönliche Ressentiment darüber zeigte, daß wir ihn so viele Jahre im Gefängnis hielten. Er war ein großer Kämpfer für die indische Freiheit.“ Das sagt, kurz vor seinem Flug zu Nehrus Einäscherung, einer seiner engsten Freunde: Admiral Lord

Mountbatten, der Chef des britischen Verteidigungsstabes und letzte Vizekönig von Indien.

Nehru ist ein großer Sohn Englands. Engländer haben ihn zu insgesamt 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Zehn Jahre hat er im Gefängnis verbracht, hat hier alle seine Werke verfaßt. Aus dem Gefängnis hat er für seine Tochter Indira an die Geschichte der Menschheit, die Geschichte Europas erinnert. In den letzten Jahren seines Lebens hat Nehru, mit der Selbstironie, die sich Menschen eines hohen, unerschütterlichen Selbstbewußtseins leisten, gerade im Gespräch mit Besuchern aus Europa des öfteren gesagt: er sehne sich aus seinem hektischen 14- bis 16stündigen Arbeitstag nach der Ruhezeit im Gefängnis zurück. Und er bedauere es, keine Zeit zu haben, in Indien auch eine Oppositionspartei aufbauen zu können.

Nehru wußte sich zutiefst jenen Angehörigen der governing class verwandt, einem ursprünglich normannischen Adels, der seit 1066 bis zur Gegenwart die Freude an der Machtübung, am großen Spiel der Politik auf allen Meeren der Weltgeschichte, in allen Stürmen je sich ändernder Verhältnisse geliebt hat. Nehrus gerade auf dem Kontinent Europa so vielverdächtigte weltpolitische Spielfreude in den hohen, späten Sommern seines Lebens — in den Jahren um die Bandung-Konferenz 1955 —, seine Bemühung, die vielfarbigen Gegner und Feinde zusammenzuspielen, ist durch altehrwürdige britische Traditionen genährt. Man darf an das jahrhundertelange hohe Spiel englischer Diplomatie um ein „Gleichgewicht der Mächte“ in Europa zurückdenken, will man Nehrus weltpolitisches Spiel mit Peking, Moskau, Kairo, Belgrad, Washington würdigen.

In der Zeit des Prinzen Eugen spielte Englands Diplomatie mit Wien, Madrid, Paris, Potsdam. Eben diesen Prinzen Eugen, den Waffenbruder von Churchills Ahn, den großen Marlbourough, hat Friedrich der Große den „heimlichen Kaiser“ genannt. Nehru war Indiens heimlicher Kaiser. Er wußte das. Sein indisches Vorbild war nicht Meister Gandhi, dem er doch auf den heißen Straßen Indiens durch Hunger und Verfolgung nachgefolgt war. Nehrus indisches Gestirn war der große König Asoka, der „Friedensfürst“, der nur mit dem Kaiser Au-gustus zu vergleichen ist, so wie ihn römische Dichter, Ideologen seiner Epoche und dann mittelalterliche Chronisten als den Friedensfürsten, der die Welt ohne Krieg befriedet, gesehen haben.

„Zwischen den Völkern Chinas und Indiens besteht eine tiefe traditionelle Freundschaft, obwohl es noch einige Differenzen zwischen unseren zwei Staaten gibt. Diese unglückliche Lage kann aber nur zeitweilig sein.“ Das erklärt Tschu En-lai in seiner Botschaft an Indien zum Tode Nehrus. Zwei Söhne der Mutter Asien sehen einander hier an, mit Augen, in denen tiefe Unruhe und tiefe Ruhe — für Europäer unheimlich — verschwistert sind.

Man liebte es hierzulande, mit der Selbstgefälligkeit kleinbürgerlicher Besserwisser Nehrus „Tragödie“ in den letzten Jahren nur so zu sehen, wie da der große Alte plötzlich tödlich erschrocken sei, als die Chinesen im Oktober 1962 zum Angriff

antraten, der übrigens ein Gegenangriff nach einer kleinen indischen Offensive war.

Nehru hat die Gefahren rings um das von ihm geschaffene Indien nicht unterschätzt. Die Größe, die gefährliche Größe des gelben roten Bruders in Peking, das sich gerade unter Mao und Tschu En-lai tausendjähriger imperialer Traditionen des chinesischen Weltreiches nachdrücklich erinnert, ist Nehru nicht verborgen geblieben. Wenn im Todesjahr Nehrus rote Brände rings um Indien und an Indiens Grenzen blühen, dann zieht hier die Weltrevolution, wie das rote kaisergelbe Peking es versteht, in Länder und Völker ein, die einst direkt und indirekt zum gelben Kaiserreich der Welt-Mitte gehört haben.

Der Kaiser Josef in Wien, der Revolutionär von oben, der in seinem Wollen und seiner Ungeduld durchaus mit Nehru zu vergleichen ist, scheiterte vor allem auch deshalb, weil er Unmögliches versuchte: Er wollte gleichzeitig eine ehrgeizige militärische Außenpolitik treiben und die Lande der Habsburger reformieren, aus dem Schlummer reißen. Nehru, nicht minder ehrgeizig als Kaiser Josef, wußte, es sei unmöglich, gleichzeitig 400 Millionen Menschen im Sprung über Jahrtausende in ein neues Bewußtsein, in eine technisch-industrielle Revolution zu führen und gleichzeitig eine militärische Aufrüstung zu schaffen, die dem großen Bruder, China, tatsächlich gewachsen sei. Nehru tat in seiner vielkritisierten Nichtrüstung in Indien das, was analog der Bruder Josef s II., Leopold von Toskana, im Herzogtum Toskana und was der Minister Goethe — gerade angesichts der täglich wachsenden preußischen Gefahr — im Staate Weimar unternommen haben: abrüsten, zunächst die Armee verkleinern.

Nehru wußte, ein Staatsmann, dem so große Aufgaben wie ihm gestellt

sind, einem Manne, dem Unmögliches aufgetragen ist, wird als letzte Leistung von der Geschichte abverlangt, durch ein Scheitern hindurchzugehen und das „kleinere Übel“ zu wählen, das in den Dimensionen Asiens immer noch ungeheuer groß sein kann.

Wir dürfen heute, nach Nehrus Tod (Uber laudis post mortem — gelobt will ich erst nach meinem Tode werden, schreibt Kaiser Maximilian I.), in seiner vielzitierten Unwilligkeit, einen Nachfolger, einen „Kronprinzen“, zu designieren, nicht nur die uns Mitteleuropäern so gut bekannte Unwilligkeit „großer alter Männer“ sehen, bei Lebzeiten einen Nachfolger anzuerkennen. Nehru hat eine Elite von menschlich und politisch hochqualifizierten Männern in Indien und für Indien herangebildet. Die Führung wollte er dennoch bis zu seinem Tode nicht abgeben, auch weil er sich zumaß, ein Scheitern, einige Debakel und Niederlagen noch persönlich zu tragen. Die Last der Erben ist übergroß genug.

Zwei knappe Pressemeldungen kurz nach Nehrus Tod: Der erste französische Botschafter in Rotchina, Lucien Paye, hat in Peking sein Beglaubigungsschreiben überreicht. Und bei der Handelsmesse in Padua werden Westdeutschland und Ostdeutschland, Nationalchina und Rotchina ausstellen.

Europa, Asien sind in Bewegung. „Das große Spiel zu dritt“, das Zusammenspiel und Gegenspiel der drei Weltmächte Amerika, China, Rußland, in Asien, Südamerika, Afrika und Europa läßt schon in naher Zukunft viele mögliche und unmögliche Kombinationen zu, die im Experiment, im Modell zeigen werden und zeigen müssen, was sie an Schaden und Nutzen für die Haupt- und Nebenspieler abgeben. Hier wird, in Weltmaßen, eine alte Praxis europäischer Spiele — einer Diplomatie im Ringen um ein

„Gleichgewicht der Mächte“ — wieder aufgenommen: Man kann, und dies praktizieren die USA und die Sowjetunion schon seit einiger Zeit, und Rotchina scheint sich anzuschließen, durchaus „gleichzeitig“ auf verschiedenen Schauplätzen in verschiedenen Kampfräumen mit sehr verschiedenen „Freunden“ und Gegnern zusammenarbeiten und gegeneinander spielen. Angesichts dieser Möglichkeiten wird dem Kontinentaleuropäer angst und bange. Die weltpolitische Spielfreudigkeit de Gaulles steht aber gerade hier ebenso in einer alten europäischen Tradition wie im Tor der neuen Spiele der Weltmächte, der großen Drei.

Vielleicht sind das in nächster Zeit positive Möglichkeiten für Indien, mitzuspielen, ohne „alles zu verlieren“ (Asiaten glauben nicht an ein Alles-verlieren-Können; Nehru hat dies mehrfach ausgesprochen, gerade angesichts der über Indien drohenden Atombombe). Also, um ein vorsichtiges Mitspielen zu ringen, im Spiel der Drei, in den Spielen der vielen beachtenswerten „kleinen“ und „kleineren“ Mitspieler. Titos Jugoslawien ehrte Nehru durch zwei Tage Staatstrauer, die Flaggen auf Halbmast. Nassers Ägypten ehrte Nehru durch eine siebentägige Staatstrauer. Die tunesische Regierung ordnete eine dreitägige Staatstrauer an.

Diese und andere Flaggen auf Halbmast zu Ehren Nehrus zeigen an, wo Indien im weltpolitischen Spiel Hilfe finden kann: neben den großen Drei, China, Rußland, Amerika.

Jawarharlal Nehru hat zeitlebens nicht an den Ost-West-Konflikt, wie ihn Europäer und Amerikaner sahen, geglaubt. Er starb in einem weltgeschichtlichen Moment, in dem eben dieser Konflikt durch andere Konflikte überhöht, auf andere Geleise gedrängt, in noch größere Zusammenhänge eingeschmolzen wird.

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