6615197-1955_27_03.jpg
Digital In Arbeit

Der indische Makler

Werbung
Werbung
Werbung

Indiens Premier, Pandit Jawaharlal Nehru, der dieser Tage zu Staatsbesuch in Wien weilte, verbindet altindische Gelehrsamkeit mit dem Wissen, das ihm eine gründliche Ausbildung an den hervorragendsten Schulen Englands vermittelt hat. Dieses geistige Rüstzeug, vervollkommnet in den langen Jahren der Haft, die ihm sein Kampf um Indiens Eigenstaatlichkeit eintrug, wird nun ergänzt durch die Erfahrungen, die er auf seinen weitausgedehnten Reisen in beiden Teilen einer heute getrennten Welt gesammelt hat und weiter sammelt. Er reist, wie er ausdrücklich erklärt, um zu sehen und zu hören, nicht aber, um sich ungebeten in fremde Probleme einzumischen oder seine Dienste als „professioneller Vermittler“ — das sind seine eigenen Worte — anzubieten. Die Betonung liegt hier offenbar auf dem Adjektiv, denn jedermann weiß, wie sehr es dem indischen Regierungschef darum zu tun ist, zu einer friedlichen Lösung zwischenstaatlicher Streitfragen, soferne sie die Interessen seines eigenen Landes nicht unmittelbar berühren, persönlich und initiativ beizutragen und keinen Schritt zu verabsäumen, der seiner Meinung nach geeignet sein könnte, der Sache des Weltfriedens zu dienen. Die Ehrlichkeit seines Bemühens ist ebensowenig zu bezweifeln, wie es gerechtfertigt wäre, ihn dafür zu tadeln, daß er den Ehrgeiz besitzt, unter den Vorkämpfern einer weltweiten, friedlichen Verständigung die führende Rolle zu spielen. Anders verhält es sich mit der Frage, ob er das Kernproblem, um das es bei allen Friedensbemühungen geht, den gefahrvollen Gegensatz zwischen West und Ost, in seinem Wesen und seinen tiefsten Gründen voll erkannt hat und erfäk. Wäre dem so, dann würde er bei seinen Versuchen, dieses Problem zu lösen, wohl kaum so zu Werke gehen, als handle es sich lediglich darum, einen Streit zu schlichten, der bloß durch Mißverständnisse entstanden und durch ein eigentlich grundloses Mißtrauen beider Seiten aufrechterhalten worden ist. Pandit Nehru betrachtet es als einen wesentlichen Fortschritt auf dem Wege des Friedens, daß die fünf Grundsätze der Koexistenz, die er im vergangenen Jahr gemeinsam mit der chinesischen Volksrepublik proklamiert hat, nun auch von Moskau offiziell als eine geeignete Basis der künftigen internationalen Beziehungen anerkannt und akzeptiert worden sind. Diese fünf Punkte enthalten aber nichts, was nicht schon in der Charta der Vereinten Nationen verbrieft und unterschrieben worden war, ohne freilich den Erfolg zu zeitigen, wie die Geschichte der letzten zehn Jahre lehrt, den die wahren Freunde des Friedens erhofft hatten. Diese Tatsache allein müßte den, indischen Ministerpräsidenten daran erinnern, daß ein enger Zusammenhalt aller Nationen, die ihre Freiheit lieben und entschlossen sind, die fundamentalen Rechte des Menschen zu verteidigen, noch immer die sicherste Gewähr für die Erhaltung des Friedens bietet.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung