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Macht und Politik

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„Ist die Anwendung der Methode der Gewaltlosigkeit in der internationalen Politik vom Bestehen einer derart wirksamen Weltorganisation abhängig?“ fragte ich weiter. Hier erhielt ich kein klares Ja oder Nein. Der Westen war nach dem Überfall auf Goa vor allem auch deshalb enttäuscht, weil er stillschweigend davon ausging, daß Indien jene Methode, mit der es seine Unabhängigkeit errungen hatte, auch auf seine Außenpolitik übertragen werde. Nehru hatte aber niemals die Methode der Gewaltlosigkeit zum Prinzip seiner Außenpolitik erhoben.

Wie verhält sich dieser Mann, hinter dem 440 Millionen Menschen stehen, zum Problem der Macht?

Diese Frage stellte ich freilich nicht. Nehru mußte ihre Implikation aber erfaßt haben, denn er betrachtete es auf jeden Fall als ein schwieriges Unternehmen, diese Methode auf der internationalen Ebene anzuwenden. „Auch innerhalb eines Staates kann der fremde Herrscher nicht immer mit dem eigenen Leiden bekehrt werden. Was wäre wohl mit Gandhi geschehen, wenn er die Unabhängigkeit Indiens einem Hitler hätte abtrotzen wollen?“

Was beabsichtigte Rotchina, als es die Straße durch indisches Territorium anlegte? Suchte es durch diesen Grenzstreit einen Vorwand für die Ausweitung des Konflikts oder wollte es nur zwei der abgelegensten Gebiete Tibets miteinander verbinden?

Zum erstenmal bekam die Stimme des Premiers einen leidenschaftlichen Unterton. Bisher war er fast bewegungslos dagesessen und hatte gleich einem Professor gewissermaßen akademisch, als würde es ihn nichts angehen, über Indien gesprochen. Als ein Salamander aus dem prächtigen Park ins Zimmer kam und den Wänden entlangschlich, nahm Nehru in orientalischer Gelassenheit kaum Notiz davon. Das Ansinnen, daß Rotchina die Eroberung seines Landes anstrebe, brachte ihn jedoch aus der Fassung. „Diese Straße hat nichts mit der Eroberung Indiens zu tun. Es ist ein alter Karawanenweg, den die Chinesen ausbauen wollten. Daß sie damit eine Aggression verübten, die ganz Indien angeht, ist eine andere Sache. Aber die Chinesen gehen nun einmal davon aus, daß all dies, was zu irgendeinem Zeitpunkt einmal im Besitz der Tibetaner gewesen sein mochte, ihr Eigentum sei.“ — „Ja, aber glauben Sie nicht, daß die Rotchinesen als Kommunisten die Weltherrschaft anstreben und es in der Richtung ihrer Pläne sein könnte, bei Indien zu beginnen?“ entgegnete ich. Die Frage lag auf der Hand. Nehru meinte: „Die chinesischen Kommunisten sind mehr Chinesen als Kommunisten. Als Kommunisten mögen sie noch immer von der Weltherrschaft träumen. Sie sind immer noch im Stadium der Revolution. Sie haben aber große Schwierigkeiten im eigenen Land.“

Viele Menschen versprechen sich' von der Ausweitung des Grabens zwischen Rotchina und der Sowjetunion die Sicherung des Weltfriedens oder mindestens eine Annäherung der beiden bisherigen Erzfeinde Rußland und Amerika. Ist es auch die Hoffnung des indischen Premiers? „Es ist klar, daß zwischen Rotchina und der Sowjetunion ein großer Graben besteht“, meinte er und fügte bei: „Ob er sich ausweitet, kann ich nicht sagen. Es kommt wohl weitgehend auf die Haltung des Westes an. Die Abrüstungskonferenz in Genf war hier ein Test, gewissermaßen die Chance der Westmächte. Ihrer inneren Struktur und ihrem Denken nach rücken sich Rußland und Amerika immer näher. Beide haben sich der Maschine und dem hohen Lebensstandard verschrieben.

„Wird ein starkes vereinigtes, auch ökonomisch vereinigtes Europa Ihrer Meinung nach der Sache des Friedens dienen?“ — Nehru: „Die Vereinigung Europas ist das natürliche Ergebnis der Geschichte. Die wirtschaftliche Vereinigung mag uns schlecht bekommen; die politische wird dann dem. Weltfrieden dienen, wenn sie nicht zu einem neuen militärischen Bündnis führt, wenn sie einer allgemeinen Abrüstung folgt.“

Meine Zeit war längst abgelaufen. Manche Fragen blieben ungeklärt. Eines ist mir in diesem Gespräch jedoch klargeworden. Hier war ein Mann, der trotz seiner 72 Jahre noch über eine große Vitalität verfügt, mit seinen Kräften sehr haushälterisch umgeht und noch lange nicht daran denkt, von der Bühne der internationalen und nationalen Politik abzutreten. Es wäre falsch, zu behaupten, daß Nehrus Denken nur einen billigen Opportunismus und Eklektizis mus widerspiegelt. Es scheint eben zi seinen politischen Überzeugungen zi gehören, daß jedes Handeln nach un verrückbaren Grundsätzen in der Poli tik äußerst gefährlich ist. Der Einzel fall und die konkrete Situation erfor dem oft die Hintansetzung bestimmte Regeln und Gesetze, wenn man de Sache des Friedens dienen will.

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