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45 Minuten mit Nehm

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Im Gespräch mit Politikern und Diplomaten, vor allem lateinischer Zunge, erlebt es ein Fragesteller nur allzu häufig, daß er mit einigen nichtssagenden Bemerkungen schnell abgefertigt wird, und hochgestellte Deutsche und Amerikaner haben oft die Fähigkeit verloren, sich eine Frage auch nur richtig anzuhören. Nicht so Pandit Nehru. Als er mich in der Empfangshalle seines herrlichen Privatsitzes in Neu-Delhi empfing und selbst in den Salon geleitete, wo wir völlig ungestört eine Dreiviertelstunde miteinander sprechen konnten, da fiel mir sofort seine Bereitschaft auf, in Ruhe auf alle meine Fragen einzutreten und auch die kitzligen unter ihnen möglichst genau zu beantworten. Geschah es, weil er eben Siesta gehalten hatte und ich der erste von zehn Bittstellern war, die den Ministerpräsidenten an diesem Nachmittag besuchten? Eingeweihte versicherten mir. daß der Premier auf eine gute Auslandspresse erpicht ist, aber die gleichen „Nehru-Experten“ wissen von vielen Fällen zu berichten, da der Ministerpräsident gelangweilt und teilnahmslos in seinem Sessel saß und die Prozedur eines Interviews einfach über sich ergehen ließ, als wäre er ein Atheist in einem Gottesdienst. „Nehru ist launisch und arrogant“, sagte man mir, „und seien Sie nicht erstaunt, wenn er es Sie merken läßt.“

Mit der ersten Frage wollte ich den Kontakt herstellen, der für jedes erfolgreiche Gespräch unbedingt von-nöten ist. Sie lautete: „Interpretiere ich Ihre Politik der Blockfreiheit (Non-Alignment) richtig, wenn ich annehme, daß sie vom Glauben durchdrungen ist, daß einer der wichtigsten Gründe der internationalen Spannungen nicht so sehr darin liegt, daß eine Seite der anderen wirklich übel will, als daß sie die andere Seite mißversteht, und zwar deshalb mißversteht, weil wir alle Teile bestimmter Gesellschaften, Kulturen und Zivilisationen sind und sehr leicht die fremden Welten von unseren bekannten, einseitigen Werten her begreifen?“

Das Eis war gebrochen. Der Intellekt des Premiers war in Hinsicht auf den Gesprächspartner und sein Thema gleichsam angekurbelt. Bevor er seine eigene Meinung äußerte, wollte er aber wissen, wo ich selber stand und ob ich nicht mit einem billigen Trick versuchte, sein Vertrauen zu gewinnen. Er stellte also die Gegenfrage: „Würden Sie sagen, daß Deutschland und Frankreich, die sich in der Vergangenheit so häufig bekriegten, verschiedene Gesellschaften und Kulturen sind?“ Ich bejahte dies und fügte bei, daß im Lichte der modernen Kultursoziologie jede Gesellschaft ihr eigenes Wertsystem ausbilde und eine fremde Gesellschaft von der großen Mehrheit nicht nach deren Wertsystem, sondern nach dem eigenen Wertsystem verstehe und damit mißverstehe.

Pandit Nehru stimmte zu und sagte wörtlich: „Die Politik der Blockfreiheit geht davon aus, daß ein richtiges Verstehen verschiedener Standpunkte im allgemeinen nur dann möglich ist, wenn man sich nicht der einen oder anderen Seite verschrieben hat. Gegen einen Dritten verbundene Staaten vertreten einen Standpunkt, der im Krieg notwendig sein mag, im Frieden aber unhaltbar ist: Ignoranz, Voreingenommenheit, mangelndes Bestreben, den anderen in seiner Andersartigkeit zu verstehen.“

Bei der zweiten Frage ging ich davon aus, daß es nicht unwichtig ist, im Gespräch mit den führenden Männern des Weltgeschehens in Erfahrung zu bringen, worin sie die letzten Ziele ihres politischen Handelns in der Weltgeschichte sehen. Weltkonflikte sind für Nehru nicht einfach die Ergebnisse ökonomisch unterschiedlicher Verhältnisse. Es ist also unrichtig, das Denken des indischen Premiers samt und sonders als materialistisch zu bezeichnen. Wo war aber sein staatspolitisches Entwicklungsdenken verankert? Glaubte er, daß man auf lange Sicht hin eine internationale Institution haben sollte, welche mit Hilfe einer internationalen Polizei- und Militärmacht sofort jeden Konflikt, wo immer er auftauchte, effektiv beilegen könnte? Nehru brachte zum Ausdruck, daß eine solche internationale Organisation auf die Dauer unumgänglich ist, wenn man den Weltfrieden sicherstellen will. Dann fuhr er fort: „Die UNO ist nicht stark genug; die Schwierigkeit der Schaffung einer solchen Organisation ist die Erreichung ihrer Unparteilichkeit. In keinem Staat ist das Bundesgericht immer und überall gerecht. Wichtig ist es aber, daß es im allgemeinen als unparteiische Instanz anerkannt wird. Heute besitzen wir noch kein solches anerkanntes internationales Gericht mit Sanktionsmacht. Der Souveränitätsbegriff ist altmodisch, und doch hängt das Völkerrecht noch weitgehend von ;hm ab. Praktisch wurde die Staatsallmacht untergraben. Die Erde wird jeden Tag kleiner.“

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