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Wolken uber Goa

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Moskau, 29. Dezember. Ministerpräsident Bulganin ... wandte sich erneut gegen den Fortbestand der portugiesischen Kolonie Goa auf indischem Boden und befürwortete entschieden die Lösung der Kasehmirfrage im Sinne Indiens.

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Moskau, 29. Dezember. Ministerpräsident Bulganin ... wandte sich erneut gegen den Fortbestand der portugiesischen Kolonie Goa auf indischem Boden und befürwortete entschieden die Lösung der Kasehmirfrage im Sinne Indiens.

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Indien hat Sorgen. Seit den ersten Tagen seiner Selbständigkeit kämpft es mit einer unerfreulichen Wirtschaftslage und schwierigen sozialen Verhältnissen, die die innenpolitische Entwicklung hemmen und das noch wenig gefestigte Staatsgefüge vor schwer lösbare Probleme stellen. Daneben werfen außenpolitische Fragen ihre Schatten auf Neu-Delhi. Im Norden steht es noch immer der grundsätzlichen Feindschaft Pakistans gegenüber, dessen Forderung auf Abtretung Kaschmirs wenig geeignet ist, das Verhältnis der beiden indischen Staaten zu bessern und eine freundschaftliche Aera herbeizuführen-

An der vorderindischen Westküste, kaum 500 Kilometer südlich von Bombay, ist es Portugiesisch-Goa, dessen Existenz neuerdings die indischen Gemüter erregt. Das kleine Uebei-bleibsel einer Weltmacht von vorgestern, mit einer Fläche von weniger als 4000 Quadratkilometer und nur etwa 650.000 Einwohnern, ist für das neue Indien der Balken im Auge und wird von dem souveränen Riesen als Fremdkörper im eigenen Fleisch empfunden. Ministerpräsident Nehru sprach vor einigen Monaten von einer „Pockennarbe im Gesicht des freien Indien“, die die einstige Seemacht Portugal zurückgelassen habe. Neu-Delhi fordert die Eingliederung dieser zwergstaatlichen Enklave in das Riesenreich. Und daß eine Betrachtung voi geographischen Standpunkt aus diese Forderung auf den ersten Blick verständlich erscheinen läßt, vereinfacht keineswegs ein unparteiisches Urteil über die Berechtigung der indischen Ansprüche. Wenn man aber nicht der Ansicht huldigen will, eine bloße Vereinfachung der Landkarte biete hinlänglichen Grund, diese „Pockennarbe“ auszumerzen, so stellt sich wohl vor allem die Frage nach ernsthaften Argumenten für eine derart einschneidende Forderung. In wirtschaftlicher Hinsicht bietet Goa für den großen Nachbarn keinen Anreiz: Goa ist arm und besitzt weder Bodenschätze noch eine besonders üppige Vegetation. Aus seinem beinahe kargen Boden ist gerade das an Nahrung herauszuholen, was für eine einfache Lebenshaltung seiner Bewohner unentbehrlich ist; als Hafen ist die Hauptstadt Goa Nova mit ihren etwa 20.000 Einwohnern ohne Bedeutung und könnte dem allerdings stark überlasteten Bombay keine Entlastung bieten. Materielle Werte können Indiens provokatorische Politik gegenüber dem Liliputaner Goa also nicht begründen. Die 450jährige Zwergkolonie fordert von Portugal seit langem nicht unerhebliche Zuschüsse, bedeutet also auch für Lissabon keine reiche Pfründe.

Der im Entstehen begriffene, vermutlich von den Amerikanern finanzierte Luftstützpunkt gab zwar Anlaß zu einer Verschärfung der portugiesisch-indischen Meinungsverschiedenheiten, aber er ist keineswegs die Ursache für die kompromißlose Forderung Neu-Delhis. Schon längst vor der Planung dieser neuen Luftbasis hat Indien seine Ansprüche auf Goa angemeldet. Diese aggressive Haltung steht nicht im Einklang mit der vielbetonten Friedenspolitik Nehtns und scheint Gründe zu haben, für die andere Faktoren verantwortlich sind. Vielleicht vermögen uns die Ereignisse der letzten Monate, die widerholten Demonstrationen vor den portugiesischen diplomatischen Vertretungen, der gut organisierte „Marsch auf Goa“ am achten Jahrestag der indischen Souveränität (15. August) die wirklichen Gründe aufzuzeigen? Es ist wohl kaum eine bloße Zufälligkeit, wenn sich bei diesen Pöbelexzessen die demonstrierenden Massen in Bombay, Kalkutta, Madras und Neu-Delhi unter einem roten Fahnenwald sammelten, in dem nur vereinzelt auch die indische Nationalflagge zu sehen war. Wenn auch versucht wurde, den Eindruck zu erwecken, als handle es sich um spontane Aktionen aufgebrachter Volksmassen, so kann doch die zielbewußte Organisation dieser „Volksaufstände“ dem aufmerksamen Beobachter nicht entgehen. Ein paar Dutzend nationalistischer Anschluß-f?natiker und vereinzelte Vertreter religiöser Gruppen vermögen über die im Hintergrund s'ihenden Drahtzieher kaum hinwegzutäuschen. Tir die Richtigkeit der im stillen ziemlich ver-b eiteten Ansicht, daß es sich bei der „Affäre Coa“ weniger um-eine nationalistisch-indische Provokation als um ein kommunistisches Manöver handle, sprechen auch andere Faktoren. Vereinzelte Andeutungen prominenter Politiker weisen in diese Richtung. Die nur wenige Tage nach dem tragischen Einmarsch der „Satyagrahis“, der unbewaffneten indischen Demonstranten, in Goa am T5. August durch Jen rotchinesischen Nachrichtendienst verbreitete Erklärung des chinesischen Friedenskomitees wird in breiten Kreisen als eine Bestätigung für die kommunistische Urheberschaft angesehen. Mit sattsam bekannter Dialektik nennt diese Erklärung den goanesischen Widerstand gegen die Eindringlinge „das Massaker von Goa“ und stellt sich „mit Zorn und Protest“ hinter den „gerechten Kampf des indischen Volkes“ (!). In einer Botschaft aus Peking an den indischen Friedensrat (einer Filiale der im Osten und Westen nicht mehr geheimnisvollen Friedensinstitutionen moskowitischer Prägung) wird das unbedeutende Goa als „integraler Bestandteil Indiens“ bezeichnet und die „Sympathie und Unterstützung aller Völker Asiens“ versichert. Was auch immer die Regierung in Neu-Delhi zu ihrer aggressiven Haltung veranlaßt, ob sie sich aus freien Stücken oder unter irgendeinem Druck hinter die provokatorischen Demonstrationen stellt, an der kommunistischen Urheberschaff in bezug auf den Konflikt um Goa bestehen wenig Zweifel und über die Auffassung eines gerechten Kampfes um die „Rückkehr“ Goas zum indischen „Mutterland“ kann man wirklich geteilter Meinung sein.

In Anbetracht des achtjährigen Bestehens Indiens als einheitliches und souveränes Staatswesen wirken seine Ansprüche auf Goa wenig überzeugend. Die Abtrennung der islamitischen Gebietsteile des indischen Subkontinents und ihr Zusammenschluß zum heutigen Pakistan zeigt, daß bei der Bestimmung der Grenzen der modernen indischen Republik vor allem die Religionszugehörigkeit der Bewohner maßgebend war. Neu-Delhi ist die Hauptstadt eines Hindustaates, der lediglich einige verstreut lebende Minderheiten anderer Religionszugehörigkeit beherbergt. — Das kleine enklavische Goa hingegen — 1510 von dem berühmten portugiesi-svhen Entdecker und Seehelden Alfonso dAlbu-querque, erster Vizekönig von Indien, für die damalige Weltmacht Portugal in Besitz genommen — ist das Zentrum der katholischen Kirche in Vorderindien und Hauptquartier der jesuitischen Asienmission. Die Goanesen, eine im Laufe der Jahrhunderte entwickelte eigene Mischrasse, sind katholisch; sie sind weder rassisch gesehen noch vom religiösen Standpunkt aus betrachtet dem indischen Volk zugehörig und fühlen sich keineswegs als Inder. Diese einfachen katholischen Christen mit ihrer fast 500jährigen Tradition sind friedliebend und auch gegen die wenigen Andersgläubigen von einer unerwarteren Toleranz, aber sie denken nicht daran, ihre Religion und Heiligtümer aufzugeben und ihre rassische und politische Eigenart für eine „Heimkehr ins indische Reich“ zu opfern. Würde man diesem Völklein das Recht freier Selbstbestimmung zugestehen, so müßte die „Affäre Goa“ zerplatzen wie eine Seifenblase: kaum ein Dutzend würden eine Aende-rung des bisherigen Status befürworten.

Die ein halbes Jahrtausend umfassende katholische Vergangenheit Goas, die einstige Größe und bedeutsame Mission dieses Vorpostens bindet diese klugen und friedfertigen Menschen fester an die europäische Mutter als die rein geographische Zugehörigkeit ihres Bodens zum indischen Teilkontinent. Sie sind die eifrigen Hüter der Grabstätte des portugiesischen Nationalhelden Franz Xaver, die Beschützer herrlicher alter Kirchen und ihrer Jesuiten- und Franziskanerklöster. Sie sind stolz auf die prachtvolle Wallfahrtskirche Bom-Jesu und auf den Sitz des Patriarchen in den von Buschwerk und Palmen überwucherten Ruinen der alten Hauptstadt Goa Velha (Alt-Goa), stolz auf Goa Nova (Neu-Goa), die heutige Haupt- und Hafenstadt. Ihnen genügt die Verheißung des traditionellen Glaubens und der Abglanz einer einstmals großen Zeit, als Goa der Angelpunkt des portugiesischen Seehandels zwischen dem Roten Meer und dem chinesischen Perlflußdelta (Kanton) war. Die Goanesen lieben den Frieden, und die aus ihren eigenen Reihen stammende etwa 5000 Mann starke Schutztruppe war für sie bisher eher eine attraktive Tradition denn ein kriegerisches Instrument. Das drohende Unheil, das sich an dem bisher blauen Himmel über Goa zusammenballt, erschreckt diese arglosen Menschen und verwundert achten sie auf die ernstgewordenen Gesichter der Soldaten. Mißtrauische Blicke streifen immer häufiger den malerischen Hindutempel in Goa Nova, der bisher als sichtbares Zeichen ihrer gutmütigen Verträglichkeit gegenüber den wenigen Hindus gelten konnte und nun plötzlich als Symbol der Gefahr und der Feindschaft erscheint.

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