6939615-1983_22_07.jpg
Digital In Arbeit

„Assam den Assamesen!“

Werbung
Werbung
Werbung

Seit Monaten fordert die bürgerkriegsähnliche Unrast im indischen Nordosten, in Assam im Tal des Brahmaputra, tagtäglich ihren Blutzoll — und das trotz massiver Polizei- und Militärpräsenz. Viele der Massaker sind noch gar nicht bekannt, da weder die Behörden noch die Armee in die entlegensten Hügelgebiete und dichten Wälder vorzudringen wagen.

Die bisherige Friedlosigkeit in der Grenzregion zu China und Bangladesh hat sich zu einer panischen Angst entwickelt: 3000 Tote, zum großen Teil Frauen und Kinder, sind auch für Indien, das noch das Gemetzel zwischen Hin dus und Moslems zu Beginn seiner Unabhängigkeit in Erinnerung hat, erschreckend.

Die Schlagzeilen vom „blutrünstigen Inder“ werden weltweit gelesen. Der Westen sieht die Lösung in mehr Demokratie, die Sozialisten glauben ans härtere Durchgreifen. Der Weg zum friedlichen Nebeneinander auf dem ethnisch, religiös undpkonomisch gespaltenen Subkontinent liegt irgendwo dazwischen.

Ein Konfliktfeld jedenfalls, das ganz gewiß auch im Tiroler Bergdorf Alpbach zur Sprache kommen wird, wo das österreichische College vom 17. bis zum 22. Juni einen Dialogkongreß Westeuropa- Indien veranstaltet, zu dem auch Premierministerin Indira Gandhi erwartet wird.

In Assam, Meghalaya, Tripura, Mizoram, Nagaland und den anderen Staaten des Nordostens steht Indiens Konzept als Nation auf dem Spiel. Die große Idee von Jawaharlal Nehru war, die Volksstämme verschiedener Herkunft,

verschiedener Sprache, Religion und Kultur durch eine indische Identität auf einen nationalen Nenner zu bringen und sie überall als Bürger Indiens willkommen zu heißen. Die assamesischen Nationalisten aber wollen das Gegenteil.

Die Losung der assamesischen Studentenunion und einer Dachorganisation von radikalen Gruppen heißt: „Assam den Assame- sen, vertreibt die Fremden!“ Mit den „Fremden“ sind die Bengalen und Nepalesen gemeint, die hier seit Jahren illegal einströmen und zusammen mit den seit der Bri- ten-Zeit ansässigen „Ausländern“ Vorrangstellungen in Wirtschaft, Verwaltung und Politik einnehmen.

Die „Eingeborenen“ in Assam, einst das „Land voller goldener Gärten“, das sich erfolgreich gegen die eroberungssüchtigen Moghulen gewehrt hatte, widersetzen sich dieser Überfremdung.

Auch die Zentralregierung in Neu Delhi hat das ökonomische Gefälle zwischen den bengalischen Handwerkern und Geschäftsleuten und den einheimischen Bauern zur Kenntnis genommen. Und seit Jahren schon sucht sie mit den Studenten eine Lösung, wie man zum Beispiel die Wählerlisten bereinigen könnte, und ob man die Zugewanderten seit 1951 — wie die Assamesen möchten — oder seit 1971, wie Delhi es sieht, zu unerwünschten „Ausländern“ deklariert. Rund 20 Diskussionsrunden zu diesen Fragen blieben ergebnislos.

Ebensowenig weiß man, wohin die „Fremden“, die man aus As sam vertreiben will, gehen sollen. Alle umliegenden Regionen haben ähnliche Ubervölkerungs- und Uberfremdungssorgen.

Verärgert über den ständigen Krach mit den assamesischen Nationalisten prellte Indira Gandhi im letzten Herbst vor, ließ die zuständige Behörde Wahlen zum assamesischen Regionalparlament ausrufen, um die bisherige Direktverwaltung durch Delhi zu beenden. Und der Urnengang wurde bis zum bitteren Ende abgehalten, obwohl die Zentralregierung von ihren Abgesandten laufend über die gespannte Lage informiert wurde.

Das Resultat war eine Wahlbeteiligung von oft nur fünf Prozent, eine Regierung, die niemand anerkennt und Tausende von Toten und Zehntausende von verbrannten Häusern. Der simple Wahlboykott der assamesischen Studenten hat Geister gerufen, die niemand mehr los wird.

„Assam den Assamesen“, diese Losung könnte man auf viele andere indische Regionen übertragen. Und jedesmal würde sich dieselbe Frage stellen: Wer sind die Eingeborenen, und wer sind die Fremden eines bestimmten Landes?

Indien kennt unzählige Kulturen, hunderte von lokalen Sprachen, fünf Hauptreligionen und Tausende von sozialen Schichten. Dieses komplexe völkische Gebilde findet sich auf dem Subkonti nent zumeist auf engem Raum zusammen.

Vor dem 18. Jahrhundert haben die Machtverhältnisse in Südasien nur in größeren Zeiträumen gewechselt. Dann kamen die Engländer, die das traditionelle orientalische Gesellschaftsgefüge zwar keineswegs über Bord warfen, sondern im Gegenteil durch Ausnutzung der bestehenden Hierarchien akzentuierten.

Mit der Zeit entstand dadurch allerdings ein stärkeres Oben und ein schwächeres Unten, das frühere Zusammenspiel zwischen den Klassen, und in Indien wesentlich auch zwischen den religiösen Kasten, war gestört.

Deutliche Merkmale dieser Zeit sind der Machtverlust der Moslems, der jahrhundertelangen Herrscher über Indien, und die wirtschaftliche und politische Erstarkung der Hindus, denen die Engländer die Verwaltung ihrer Kolonie übertrugen.

Die gewaltigen Tee-, Holz- und Juteexporte aus Assam zum Beispiel wurden von Bengalen gemanagt, die hier zwar nicht den Moslems, sondern den einheimischen Urstämmen zu einer ernsten ökonomischen Konkurrenz wurden. Aus dem assamesischen Stolz, den Moghuln getrotzt zu haben, wurden ein Zorn ob der Niederlage gegen die Briten und schließlich ein Haß gegen die britischen Verbündeten, die Bengalen.

Und dort stehen wir noch heute, in Assam, im ganzen Nordosten, und in etlichen anderen von den Kolonialisten fahrlässig vermischten Gesellschaften. Aus dem „weißen“ Feind wurde 1948

ein „brauner“- die Kongreß-Partei.

Indien hat sich seit Mahatma Gandhis Kampf gegen die fremden Herrscher nur marginal verändert: mit der kleinen Ausnahme, daß bereits die meist minimalen Verbesserungen der Strukturen an der indischen Basis eine Bewußtseinsbildung ermöglichten, die soziale Erschütterungen zur Folge hat. Je mehr es aber unten brodelt, desto stärker wird oben auf den Kochtopf gedrückt, bis er sich dann doch überhitzt.

So gesehen, sind die oft blutigen Unruhen in Indien kein Novum, je nach Zahl der Opfer aber dringt die Kunde davon nach außen oder verliert sich in der indischen Masse: 700 Millionen Menschen können auch die modernsten Medien nicht überblicken.

Die. ständige soziale Unrast in Indien kann man nicht nur mit der Kolonialherrschaft der Engländer begründen oder entschuldigen. Wer immer in Indien eine Tageszeitung zur Hand nimmt, erhält das Gefühl, mit einer gewalttätigen Gesellschaft konfrontiert zu sein. Zu leicht vergißt man, daß auf einer Länge von 4000 Kilometern Kräfte spielen, die noch kein Soziologe erarbeitet hat. Orientale Traditionen gegen westliche Technologie etwa sind nur ein winziger Aspekt der nationalen Zerrissenheit des Subkontinents.

Das gestörte Zusammenleben der indischen Völker begann nicht mit den Engländern und hörte auch nicht mit ihnen auf. Es ist ein Kampf vieler gegen viele, nicht entlang ethnischer, rassischer, linguistischer oder religiöser Grenzen, sondern jeder blutige Streit enthält Teile jedes dieser Elemente. Assam war und ist das typische Beispiel.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung