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Indien: Ein unbequemer Nachbar

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Der persönliche Einfluß der ermordeten Ministerpräsidentin Indira Gandhi auf die indische Politik der letzten zwei Jahrzehnte ist in den Wochen nach ihrem Tod fast stärker spürbar als noch zu ihren Lebzeiten.

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Der persönliche Einfluß der ermordeten Ministerpräsidentin Indira Gandhi auf die indische Politik der letzten zwei Jahrzehnte ist in den Wochen nach ihrem Tod fast stärker spürbar als noch zu ihren Lebzeiten.

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Das Ausbleiben von Frau Gandhis internationaler Geschäftigkeit, ihrer fast täglichen Ermahnungen an die Nachbarn und das entfernte Ausland hinterlassen einen merklichen Leerraum. Das Verhältnis Indiens zu seinen Nachbarn in der Nach-Indira-Ära ist völlig ungewiß. Bloß der in nationalen Bereichen angeschlagene Ton des neuen Regierungschefs Rajiv Gandhi läßt auch außenpolitisch diplomatische Annäherungen erwarten.

Henry Kissinger bezeichnete Indira Gandhi als „rücksichtslos indisch". Die verstorbene Pre-

mierministerin war zweifellos die markante Vertreterin der „indischen Selbstfindung", wie die Epoche des Ubergangs von der Erinnerung an den Freiheitskampf zur regionalen Eigenständigkeit genannt wird. Außenpolitisch wurde Indien in dieser Zeit oft angefeindet und noch häufiger mißverstanden.

Als Realpolitikerin übernahm Indira Gandhi die Auswirkungen der Niederlagen ihres Vaters mit der festen Absicht, daraus Kapital zu schlagen: China blieb bis heute der Angstgegner im Norden. Der Indische Ozean wurde zur Friedenszone propagiert, um die Achse zwischen den USA und Pakistan zu diffamieren. Und der Unabhängigkeitskrieg in Bangladesch war eine willkommene Gelegenheit, zu zeigen, wo die militärische Stärke der Region hegt.

Die Nachbarschaftsbeziehungen zwischen Indien und Pakistan waren in den letzten zehn Jahren immer gespannt. Frau Gandhi nahm die anti-pakistanische Rhetorik nach ihrer Wiederwahl 1980 in vollem Umfang neu auf. Dazu kam die sowjetische Besetzung

Afghanistans, die den westlichen Nachbarn zum Frontstaat der europäischen und amerikanischen Demokraten machte. Diese benützten Pakistan auch bald als Auffahrtsfeld modernster Waffentechnologie.

Indien, das verteidigungspolitisch in Richtung Moskau abgeglitten war, sah angesichts dieser „Bedrohung an der Westgrenze" (Delhi sah das Waffenarsenal in Pakistan gegen sich und nicht gegen Afghanistan gerichtet) auch aus innenpolitischen Gründen keine andere Möglichkeit, als die sowjetische Gefahr im Nordwesten geringzuschätzen.

Die innenpolitischen Spannungen im nordwestindischen Bundesland Punjab, die zum Mord an Frau Gandhi führten, lassen Zweifel aufkommen, ob sich zwischen Indien und Pakistan über kurz oder lang neue Beziehungen anbahnen können. Gerüchte wollen wissen, daß Frau Gandhi die Lage in der Sikh-Stadt Amritsar absichtlich habe auf die Spitze treiben lassen, um massiv mit der Armee einzugreifen und diese als bessere Kontrolle der Grenze zu Pakistan künftig dort zu belassen.

Kurz nach der Aktion in Amritsar ließ sie auch die Oppositionsregierung im Grenzland Kaschmir auswechseln und mit Loyalisten besetzen. Informierte Quellen wollen dahinter sogar die Absicht erkannt haben, bei Gelegenheit Pakistan „eine Lektion zu erteilen".

Dieses indisch-pakistanische Kräftemessen konnte auch durch den von Islamabad vorgeschlage-

nen Nichtangriffspakt oder den indischen Vorschlag zu einem Freundschaftsvertrag nicht überdeckt werden. Das Mißtrauen ist so groß geworden, daß auch der Nachfolger Indira Gandhis, Rajiv, an diesem verwurzelten Feindbild kurzfristig nichts wird ändern können.

Das Verhältnis zu Pakistan dominierte Indiens Regionalpolitik. Ausnehmend wichtiger wurde in den letzten Jahren auch die Beziehung zu Sri Lanka, und dies ebenfalls aus innenpolitischen Gründen. Der Konflikt zwischen Sin-ghalesen und Tamilen auf der Insel südlich des Subkontinents betraf Indien insofern, als die Bewohner seines Bundeslandes Tamil Nadu mit den ethnisch verwandten Einwohnern im Norden Sri Lankas sympathisierten.

Seit die Terrorakte dort zunahmen, und Colombo Indien als die unmittelbare Quelle des „Sezessionismus" der Tamilen hält, hatte sich das Klima zwischen der Regierung des srilankischen Präsidenten Jayewardene und Indira Gandhi verschlechtert.

Der Konflikt im nördlichen Sri Lanka dauert an. Rajiv Gandhi wird sich in den nächsten Wochen im eigenen Wahlinteresse hinter die tamilische Minderheit stellen müssen. Andererseits ist auf Sri Lanka selbst immer wieder die Angst vor einem zweiten Zypernkonflikt spürbar.

Werden die Inder morgen militärisch für die Sri Lanka-Tamüen einstehen? Das große Fragezeichen in diesem Zusammenhang ist wohl, wieweit die Regierung

Gandhi von der Armee gestützt wird. Die indischen Militärs sind heute in fünf Bundesländern als Kontroll-Funktionäre tätig, zurzeit auch in der Hauptstadt Neu Delhi. Falls dies zu einem politischen Mitspracherecht seiner Offiziere führte, müßten die Dispute mit Pakistan und Sri Lanka in einem anderen Licht gesehen werden.

Indiens Beziehung mit seinem nördlichen Nachbarn China bestimmt die Nachbarschaftskontakte zu Nepal und Bangladesch. Indien leidet nach wie vor unter dem Trauma des China-Einfalls von 1962. Die damaligen Territoriumsgewinne Pekings sind heute Gegenstand einer vorsichtigen Annäherung. Die indisch-chinesischen Grenzgespräche sind jedoch nicht über Formfragen hinausgekommen.

Dieser „China-Faktor" wirkt sich auch auf die Beziehung zu Nepal und Bangladesch aus, indem der chinesische Einfluß auf die Regierungen in Kathmandu und Dhaka Indien suspekt ist.

Als erster Vertreter der Supermächte kam nur wenige Monate nach dem Wahlsieg Frau Gandhis 1980 Staats- und Parteichef Leo-nid Breschnew auf Staatsbesuch nach Neu Delhi. Damals schien das indisch-sowjetische Verhältnis perfekt. Dem standen jedoch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten gegenüber, die Indira Gandhi von ihrer Vorgänger-Regierung geerbt hatte. Das Außenhandelsdefizit weitete sich aus. Sie brauchte dringend Kredite.

Doch in den Vereinigten Staaten wirkten ihre politischen Anmaßungen während des Ausnahmezustandes Mitte der siebziger Jahre noch nach.

Indira Gandhi, deren Rhetorik an Deutlichkeit selten zu wünschen übrigließ, mußte somit zur Zeit der Finanzbegehren an die Weltbank und den internationalen Währungsfonds außenpolitisch ausbalancieren. Sie benützte das Blockfreien-Treffen in Neu Delhi 1983, um ihre engeren Wirtschaftskontakte zum Westen durch eine Politik des Neutralismus auszugleichen.

Der Ost-West-Konflikt kam beim Treffen der Staats- und Regierungschefs aus über hundert Entwicklungsländern so sehr ins Rampenlicht, daß Frau Gandhi alle diplomatische Geschicklichkeit aufwenden mußte, um den Streit zwischen Singapur und Kuba zu besänftigen.

Doch Indira Gandhi war die Realpolitikerin. In den letzten Wochen und mit näherrückendem Wahltermin war die „nationale Sicherheit durch das Ausland höchst bedroht". Der Angriff durch Pakistan - mit amerikanischen Waffen - stand laut ihren Worten unmittelbar bevor.

Am Tag vor ihrem Tod attak-kierte Frau Gandhi den „imperialistischen Gegner". Sie gab sich damit ein letztes Mal rücksichtslos und unbarmherzig indisch. Nur 24 Stunden später beschuldigte die Sowjet-Agentur Tass Washington des Mord-Komplotts. Indien bleibt im Spannungsfeld zwischen Ost und West.

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