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Hunger und Macht

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Es wird immer stiller um das Massensterben in Bengalen. Die direkt beteiligten Länder überhäufen sich gegenseitig mit Beschuldigungen und einseitig gefärbte Reportagen stiften zusätzliche Verwirrung.

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Es wird immer stiller um das Massensterben in Bengalen. Die direkt beteiligten Länder überhäufen sich gegenseitig mit Beschuldigungen und einseitig gefärbte Reportagen stiften zusätzliche Verwirrung.

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Mit Spannung erwartete man in diesen Tagen eine Rundfunkansprache Yahya Khans über eine bevorstehende Normalisierung der Lage durch eine Rückkehr zu verfassungsmäßigen Zuständen in Ostpakistan. Dort sollen Nachwahlen stattfinden, um die Hälfte der Abgeordneten, die wegen „staatsfeindlicher Umtreibe“ ihre Mandate verloren haben, zu ersetzen. Die Awami-Liga bleibt verboten, doch darf die andere Hälfte, gegen die keine Anklage wegen Hochverrats erhoben wird, ihre Mandate in persönlicher Eigenschaft behalten. Sowohl bei den Widerstandskämpfern wie in Indien stößt diese Neuordnung auf Widerstand, denn die erst genannten wollen nach wie vor die völlige Unabhängigkeit, während Indien die bedingungslose Aufhebung des Verbots der Awami-Liga fordert, was Pakistan als flagrante Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes zurückweist.

Über das Schicksals des Führers der Awami-Liga sagte Yahya Khan nichts. Jener verantwortet sich jetzt hinter verschlossenen Türen wegen Hochverrats und wegen der Ingangsetzung eines angeblich mit indischer Hilfe inszenierten Aufstandes. Und während ein großes Nachrichtenmagazin in einer von unparteiischen Sachkennern als einseitig bezeichne- ten Reportage behauptet, „Scheikh

Muribur Rahman droht die Todesstrafe“, erfährt man von wohlinformierten Gewährsmännern, daß Staatsoberhäupter und Regierungschefs, unter ihnen auch Präsident Nixon, die zu seinen Gunsten intervenierten, von Yahya Khan die Antwort erhielten, daß man den Scheikh nicht hinrichten werde. Schon mit Rücksicht auf die Weltöffentlichkeit dürfte der zielbewußte pakistanische Staatschef zögern, öl in das bengalische Feuer zu gießen.

Die auf beiden Seiten geäußerten Kriegsdrohungen werden von guten Asienkennern nicht allzu ernst genommen. Als Anfang Oktober Yahya Khan von der Möglichkeit einer indischen Aggression sprach, sagte Frau Gandhi, daß Indien Pakistan nicht angreifen wolle, „falls es nicht durch die Haltung des Gegners in einen Krieg hineingedrängt werde“. Und Yahya Khan erklärte, daß Pakistan nur dann einen „totalen Krieg“ auslösen würde, wenn indische Truppen in Ostpakistan einmarschierten.

Nach dem Abschluß des neuen indisch-sowjetischen Abkommens waren viele Inder davon überzeugt, daß bei einer Verschärfung des Konflikts und einem möglichen Kriegsausbruch, Moskau voll und ganz auf Seiten Indiens stehen werde. Inzwischen hat Frau Gandhi Moskau besucht und dort eine einigermaßen veränderte Atmosphäre vorgefun den. Es soll ihr nahegelegt worden sein, unter allen Umständen eine formelle Anerkennung eines unabhängigen Ostpakistans zu unterlassen. Ein solcher Schritt war noch vor kurzem von Indien in Betracht gezogen worden, wo man sogar hoffte, daß zumindest einige sowjetische Satellitenstaaten ein unabhängiges Ostpakistan anerkennen würden. Heute muß sich Indien mit der Tatsache abflnden, daß mit Rücksicht auf größere weltpolitische Zusammengänge sowohl Moskau wie Washington an einer Zerreißung Pakistans nicht interessiert sind, die das gesamte Kräftespiel der Weltmächte aus den Angeln heben könnte.

Falsche Prognosen

Schon vor längerer Zeit hat sich Yahya Khan bereit erklärt, mit Frau Gandhi persönlich zusammenzutreffen, um mit ihr die Möglichkeiten einer Friedensanbahnung zu besprechen. Indien hat diesen Vorschlag abgelehnt, was wohl „hinter den Kulissen“ nicht zur Stärkung der indischen Positionen beigetragen hat, ebensowenig wie Indiens Weigerung, Ausländer zur Hilfeleistung für Flüchtlinge einreisen zu lassen. In diesem Zusammenhang wird in Islamabad behauptet, daß die allenthalben verbreitete Angabe, daß neun Millionen Menschen nach Indien geflohen seien, nicht der Wahrheit entspricht. Ihre Zahl betrage nur etwa ein Viertel der von Indien angegebenen. Indische Experten hätten überdies schon vor vier Monaten den völligen Zusammenbruch der pakistanischen Wirtschaft innerhalb von zwei bis drei Monaten vorausgesagt und auch damit nicht Recht behalten.

Tauziehen der Weltmächte

Die meisten der nach Indien geflohenen Führer der Awami-Liga residieren in Kalkutta. Man erfährt von unparteiischen Gewährsmännern, daß ihr Prestige angeschlagen sei, weil man ihnen vorwirft, daß es ihnen im Laufe vieler Monate nicht gelungen sei, einen „regelrechten Massenaufstand“ in Gang zu setzen. Auch werden sie vom Peking-hörigen Teil des linken Flügels der indischen Kommunisten angegriffen, der ihnen vorwirft, der Aufgabe nicht gewachsen gewesen zu sein, „die Eliminierung der Klassenfeinde in Ostpakistan herbeizuführen“.

Die vorsichtige Haltung der Weltmächte in betreff des gefährlichen Spannungsfeldes in Bengalen steht jedenfalls auch mit der Gesamtlage im Bereich des Indischen Ozeans in Zusammenhang. In dem durch den Abzug der Briten aus fast allen Bereichen östlich von Suez entstandenen machtmäßigen Leerraum bemühen sich heute mehrere Weltmächte um die Ausdehnung ihrer Einflußbereiche. Dies zwingt auch Moskau und Washington zur Wahrung ihrer Positionen in dem von Peking kraftvoll unterstützten Pakistan. Man glaubt ja, daß die „Aufweichung“ ganz Bengalens dem Vordringen Chinas und der Schaffung eines zweiten Zugangs des maotischen Reiches zum offenen Meer Vorschub leiste. In diesem Zusammenhang ist ja auch die Tatsache bemerkenswert, daß jetzt Peking mit großer Tatkraft die Vergrößerung und Modernisierung seiner bis vor kurzem noch völlig bedeutungslosen und veralteten Flotte vorantreibt.

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