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Indien: Triumph des, Saubermachers'

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Indiens Premier Rajiv Gandhi feierte bei den Parlamentswahlen Ende Dezember einen gigantischen Wahlerfolg. In diesem Triumph stecken für den neuen Politstar freilich enorme Verpflichtungen.

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Indiens Premier Rajiv Gandhi feierte bei den Parlamentswahlen Ende Dezember einen gigantischen Wahlerfolg. In diesem Triumph stecken für den neuen Politstar freilich enorme Verpflichtungen.

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Der überwältigende Sieg der indischen Kongreß-Partei bei den Unterhauswahlen Ende Dezember hatte die Bevölkerung des Subkontinents zunächst einmal völlig überrascht. Ein „Protestvotum gegen das Versagen der Regierungspolitik” ist für die einheimischen Wahlanalytiker zwar nichts neues. Sie zögern hingegen, wie die unabhängige „Times of India” schrieb, „ob das jetzige Verdikt des indischen Volkes im positiven oder negativen Sinne ausgelegt werden muß”.

Premierminister Rajiv Gandhi und seine Regierungspartei erreichten nach Bekanntgabe aller 508 Abgeordnetensitze die magische Zahl 401. Damit lagen sie weit über dem Resultat, mit dem Ra-jivs Großvater Jawaharlal Nehru 1957 auf dem Höhepunkt des indischen Nationalismus dreiviertel aller Parlamentssitze gewann.

Die Bevölkerung in den Städten wie in der indischen Landschaft blieb, von vereinzelten Quartier-Feiern abgesehen, auch nach Bekanntwerden des Erdrutsch-Sieges für den Kongreß kühl - ganz im Gegensatz zu 1977, als die Wahl-Niederlage Indira Gandhis die Jahre der Notstandsverordnungen abrupt beendete und das Volk auf den Straßen tanzte. Viele indische Wahlbeobachter fragten sich deshalb, ob der Wähler gar an der Richtigkeit seines eigenen Urteils zu zweifeln beginne.

Das Jahr 1984 der indischen Politik war von drei dramatischen Entwicklungen geprägt: Zwischen der Mehrheitsbevölkerung der Hindus und den beiden Minderheiten Sikhs und Muslim öffnete sich ein gefährlicher Spalt. Den blutigen Attacken gegen die Muslims zunächst im Norden und später in Bombay folgten Uberfälle von radikalen Sikhs auf Hindus und gelegentlich auch Racheakte der Betroffenen.

Diese religiösen Streitereien gingen parallel mit sozialen und ökonomischen Akzentverschiebungen im indischen Vielvölkerstaat. Die Regierung in Neu Delhi reagierte auf die Aufbruchstimmung meist mit dem Einsatz von Para-Militärs und der Armee, und besonders die immer vehementer vorgetragenen Anliegen der Autonomisten in Punjab und Assam blieben unbeantwortet; bis Indira Gandhi mit dem Sturm auf den Goldenen Tempel von Amritsar reagierte, der landesweit spürbar erst recht zu einer sozialen Polarisierung führte.

Der Mord an der Premierministerin ist laut dem neuesten Stand der Untersuchung die Tat zweier oder mehrerer Einzelgänger. Dennoch bedeutete sie für den Subkontinent mehr als bloß das Ende einer Fehde zwischen den Sikhs und der als „Hindu-Chauvinistin” gestempelten Frau Gandhi, sondern weckte das Verlangen nach mehr sozialer Stabilität.

Der dritte und wohl spektakulärste Akt dieses indischen Polit-Dramas 1984 ist der Ausgang der Unterhauswahlen keine zwei Monate nach Indiras Tod. Die ermordete Politikerin wurde trotz ihres Charismas in allen Nachrufen ganz oder teilweise für die Unterwanderung der staatlichen Institutionen verantwortlich gemacht. Der Publizist Arun Shourie glaubt, bestes Beispiel dieses „ruinösen Zerfalls von Staat und

Gesellschaft ist der desolate Zustand der Kongreßpartei, die einst für Indien die Freiheit erkämpft hatte und als Symbol der nationalen Einheit und Integrität stand”.

Premierminister Rajiv Gandhi hat sein zerfallendes Kongreß-Gebäude nur zwei Wochen nach dem Tod seiner Mutter insofern repariert, als er einigen Indira-Schützlingen, die als Zentraloder Landesminister ohne Leistungsausweis geblieben waren, das „Kandidaten-Ticket” verweigerte und an ihrer Stelle Vertreter einer jungen, gebildeten Kaderschicht ins Rennen schickte. Dieses Vorprellen des 1981 als „Saubermacher” in die Politik eingetretenen Kongreß-Präsidenten beeindruckte offensichtlich weite Kreise in ganz Indien.

„Sie, die selbst im abgelegensten Dorf für jeden Kleinkredit zuerst einen politischen Muskelmann günstig stimmen mußten, sahen in Rajiv plötzlich den Stern aufgehen, der Licht in dieses Dunkel des politischen Sklavendaseins bringt”, wie ein Fernseh-Kommentator das Wähler-Verhalten bildlich schilderte. „Dreiviertel der indischen Wähler sind unter 35 Jahre alt und konnten mit dem traditionellen Abhängigkeitsdenken dieser machthungrigen alten Garde, sei es im Kongreß oder in der Opposition, ohnehin nicht viel anfangen”, fügte die „Times of India” hinzu.

So gesehen interpretieren die indischen Medien das Wählerurteil bei den Unterhauswahlen 1984 gleichzeitig als negatives Votum, „als klare Absage an die Stagnation in Politik und Wirtschaft” und als „Ausdruck der Hoffnung auf einen kompletten Neubeginn”. Dafür nimmt der indische Stimmbürger auch das Risiko auf sich, mit Rajiv Gandhi als unerfahrenen Regierungschef, den Filmstar Amitabh Bachhan als völligen Po-lit-Neuling und Rao Scindia als verwöhnten Prinzen-Sohn in das neue Parlament, die Lok Sabha, zu wählen und sie ihren jeweiligen Gegnern, alle jahrzehntelange Führer einer der nationalen Oppositionsparteien und gleichzeitig brillante Rhetoriker, vorzuziehen.

Dieser Wille zur radikalen Veränderung der politischen Landschaft führte aber auch zur kuriosen Situation, daß Andhra Pra-deshs siegreiche Telugu Desam, die 1983 die kulturelle Randregion zu einer Revolution gegen die Dominanz der Hindi-Elite aus dem Norden auch im Süden aufrief und damit erfolgreich war, im neuen Unterhaus als reine Lokal-Partei zur landesweit größten Oppositions-Gruppe geworden ist. Ihr zahlenmäßig ähnlich sind nur mehr die Marxisten von Westbengalen (Kalkutta), die jedoch starke Einbußen erlitten.

Die indischen Wahlanalytiker gaben nach dem Urnengang offen zu, daß sie nur Teilaspekte von Rajiv Gandhis „Einparteien-Er-folg” analysieren konnten. In Ansätzen stellen sie zusammen mit der Absage an den bisherigen Egozentrismus und die neue Denkweise der jungen Generation in Rechnung:

• Daß Rajiv Gandhi nicht bloß die ethnischen Minderheiten und sozial Unterprivilegierten wie die Moslems und kastenlosen Hindus, für die Frau Gandhi eine Art göttliche Inkarnation war, um sich scharte, sondern auch die Kasten-Hindus, die sonst den nationalistischen Volksparteien angehörten, dem Kongreß zuführte. Sie vermißten in den letzten Jahren die wirtschaftliche Expansion, die sie sich nun vom modernistischen Rajiv erhoffen.

• Daß die indische Nation trotz allem Zukunftsglauben der Kontinuität verpflichtet ist. Der Kongreß gibt allein wegen seiner dynastischen Erbfolge hier mehr Garantie als die ideologisch sprunghafte Opposition.

• Daß Rajiv Gandhi der städtischen Intelligenz genau so wie dem hungrigen Landarbeiter aus unterschiedlichsten Gründen zur Uberlebenshoffnung wurde. Falls er versagt, werde der Inder ihm genau so wie seiner Mutter 1977 und der Janata-Regierung 1980 das Vertrauen wieder entziehen.

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