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Menschenrechte in Delhi und Lynchjustiz auf dem Dorfe

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Bei der Unionswahl vom 16. März ging es um Demokratie und um die Bürgerrechte. Das autoritäre Regime der Kongreßpartei und der Indira Gandhi wurde geschlagen. Die vereinte Oppositionsblock-Janata wurde zur Regierungspartei. Die Demokratie war wiedergeboren. Die Bürgerrechte waren - soweit es in diesem Land der 600.000 Dörfer und der fast 600.000 Dorfdespoten möglich ist - gesichert.

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Bei der Unionswahl vom 16. März ging es um Demokratie und um die Bürgerrechte. Das autoritäre Regime der Kongreßpartei und der Indira Gandhi wurde geschlagen. Die vereinte Oppositionsblock-Janata wurde zur Regierungspartei. Die Demokratie war wiedergeboren. Die Bürgerrechte waren - soweit es in diesem Land der 600.000 Dörfer und der fast 600.000 Dorfdespoten möglich ist - gesichert.

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Man verglich den Wahltag von 1977 mit dem Befreiungstag von 1947. Ein unheilverkündender Vergleich. Dem Befreiungstag folgten Religionsmassaker und 30 Jahre der Kangreßmiß- wirtschaft, der Korruption, des Rückgangs. Seit dem 16. März sind nun 150 Tage verflossen. Jahrelange Mißwirtschaft in einem so unendlich weiten Land kann nicht durch politische und administrative Erdbeben beendet werden. Von einem politischen Erdbeben kann auch gar nicht die Rede sein. Aber die Dinge beginnen, wieder ins alte Lot zu kommen. Die Frage, was sich verändern werde, war nach dem 16. März offen und ist heute schon wieder vergessen. PiloMody, ein Liberaler in der Führung der Janata, beschrieb die Lage: „Hinter uns die alte Kongreßpartei. Vor uns deren Spiegelbild, das sich Janata nennt.” Die Einheit der demokratischen Parteien im Oppositionsblock galt vor dem 16. März einer Wiederherstellung der Demokratie. Die Verwandlung des oppositionellen Wahlblocks in eine Regierungspartei hat Programmprobleme gebracht und mit ihnen Gegensätze aufgedeckt. Die Schweißstellen halten vorläufig noch.

Fünf Parteien haben sich vor dem 16. März zusammengeschlossen: Jana Sangh, die Partei des Hindustaates Hindustan; BLD, die Partei der militanten Mittelbauernkaste; Kongreß-O, die 1969 aus dem Indira-Kongreß ausgeschlossenen Kongreß-Konservativen, und die Sozialistische Partei. Später kam noch der „Kongreß für Demokratie” dazu, im letzten Augenblick vor den Wahlen aus der Regierung und der Regierungspartei zur Opposition übergetreten. Nach dem Wahlsieg hoffte man noch, daß eine Totalfusion dieser Parteien in Janata die Gegensätze überwinden werde. „Einigkeit, fii’d’en Gefängnissen geschlossen, wird zur Einheit des gemeinsamen Regie- rens werden”, sagte damals Surendra Mohan, der Generalsekretär der Sozialistischen Partei. Doch das alles änderte sich, als es um die Wirtschaft ging.

MACHTSPIELE

Die in Janata fusionierten Parteien wurden Janata-Fraktionen. Interessengegensätze, die früher offen ausgetragen worden waren, wurden zu parteiinternen Intrigen. Schon schließen die „fusionierten” Parteien in Janata Koalitionen, die einander feindlich gegenüberstehen. Jana Sangh und BLD dominiėren, denn sie haben sich ihre Kader und Kastenorganisationen im janatafreien Raum erhalten. Fast mitgliedlos ist „Kongreß-O”, die Partei des Ministerpräsidenten. Ohne eigenes Hinterland bleiben die Sozialisten. Und die Parteiintrigen in Janata spielen sich in dem Sumpf ab, der mit den Tausenden von Überläufern aus der geschlagenen Kongreßpartei in die neue Regierungspartei hinübergequollen ist. Machtspiele beherrschen das politische Bild. Moraji Desai, Kaiser mit großem Prestige, aber ohne Hausmacht, setzt plötzlich Minister ab und ein. Jana Sangh und andere Hinduzeloten halten gemeinsame Treffen ab für die „Sanskritisierung der indischen Politik”. Die vielen zentrifugalen Kräfte, die widersprüchlichen Interessen, lähmen die Regierung, heben einander auf.

Moraji Desai, Ministerpräsident und Zentralfigur alles Geschehens, beschreibt sich gerne selbst als einen Meister der Überwindung aller menschlichen Schwächen - ein jeder Frau entsagender Brahmachari seit fünfzig Jahren, gepanzert gegen Liebe und Haß. Er werde, so lautet das Gerücht, in zwei Jahren dem Regieren entsagen und sich, ein Rishi, ein Weiser, ein Seher, in den Himalaya zurückziehen. Vorläufig aber ist er Jünger des Mahatma Gandhi, unbeugsamer Brahmane und lebenslanger Feind der Familie Nehru. Er sagt, die neunzehn Monate Einsamkeit in Sicherheitsverwahrung hätten ihn das Verstehen alles Menschlichen gelehrt. So präsidiert er dem Kabinett. So präsentiert er sich der Presse: Ein kahlköpfiger Kluger, vielleicht ein Weiser, der drei von seinen achteinhalb Jahrzehnten auf diese seine Stunde gewartet hat Er ist vom Triumpf des Rechtes und der Moral überzeugt.

Der 16. März hätte eine Wende sein sollen, wie sie nur einmal in einer Generation möglich ist. Mit dem Indira- Regime sollte auch Nehrus Erbe, der Industrialisierungskult, Vergangenheit sein. Endlich sollte Mahatma Gandhis Indienbild der 600.000 dörfischen Wirtschaftsgemeinschaften Wirklichkeit werden. Schwerpunktverlagerung von der Großindustrie auf die ländliche Kleinindustrie, hieß es im ersten Grundsatzprogramm: Bewässerung, Urbarmachung, Heimproduktion, Dorfwerkstätte - das waren Mahatmas Wirtschaftsprioritäten. Das Spinnrad - längst Symbol der Kongreßheuchelei - sollte Motor der neuen Wirtschaft werden.

EIN KRONPRINZ

Dem Grundsatzprogramm fehlten wichtige Punkte. Vor allem die Forderung nach Mindestlohn für die Landarbeiter, nach Boden für die Landlosen, nach Aufteilung des Brachlandes an die Landarmen. Doch von der Schwerpunktverlagerung auf das Dorf und auf die Dorf Wirtschaft ist vorläufig noch wenigzu sehen. Von der Boden- und von der Brachlandverteilung noch gar nichts. Die Vertreter der Industrie in Janata haben sich bisher erfolgreich gegen jede Gewichtsverlagerung gewehrt. Die Grundbesitzer wollen sich das ihre holen, von Bodenverteilung aber nichts hören. Eigentumloses Brachland ist ihnen offenbar lieber als Kulturboden im Besitz der Dorfarmen.

Gewiß, in 150 Tagen kann niemand von der in- dreißig Jahren erhärteten Nehrurealität auf das Mahatma-Bild zurückschalten. Doch gegen Ende der ersten 150 Tage Janata kam ein Janata-Budget heraus. Durchdacht, seriös, doch kaum viel anders als die 29 Kongreßbudgets seit 1947. Aber in diesem Budget hätte der Ansatzpunkt der Veränderung stecken müssen. Die Bewegungslosigkeit der Industrie wird von innen her gefährdet. Während der 19 Monate des Ausnahmezustandes herrschte Streikverbot. Zu den ersten, Maßnahmen der Janata- Regierung gehörte die Wiederherstellung der Gewerkschaftsfreiheit. Jetzt durfte wieder gestreikt werden. IN- TUC, die Gewerkschaft der Kongreßpartei, AITUC, die Gewerkschaft der „rechts”-kommunistischen Partei, hatten bis zum 16. März das Regime Indiras unterstützt und das Streikverbot hingenommen, sie hatten „Hetzer” in den Betrieben der Polizei ausgeliefert. Jetzt wurden sie aber zu Gewerkschaften der Oppositionspartei und forderten alsbald von der Regierung, daß alle Maßnahmen des Ausnahmezustandes unverzüglich aufgehoben würden. Sie forderten die Entlassung der vom verflossenen Regime Geförderten, die Erhöhung des vom verflossenen Regime auf ein Drittel reduzierten Bonus um das Dreifache - und zwar rückwirkend … Sie forderten Erfüllbares und Unerfüllbares. Natürlich mußten sich die Gewerkschaften der Janata-Partei den Forderungen von INTUC und AITUC anschließen.

Die Janata-Regierung, die Gewerkschafts- und Streikfreiheit wiederhergestellt hatte, sah “sich von den Kongreß- und Kommunistengewerkschaften, die für das Streik- und Gewerkschaftsverbot des vergangenen Regimes verantwortlich waren, bedroht. Die Industrieführer, Stützen des verflossenen Kongreßregimes, längst aber zu Stützen des gegenwärtigen Ja- nata-Regimes geworden, suchten die Situation auszunützen, um die bedrängten Janata-Minister zur Wiederherstellung des uneingeschränkten Unternehmer- und Polizeirechts in den Industrien zu bewegen. Der schwache Innenminister versank bereits in den Wogen der Industriekämpfe. Da ernannte Moraji Desai einen neuen Industrieminister: George Fernandes, einen Sozialisten und Volkshelden des Widerstandskampfes gegen Indira, einen Mann, in dem sich Feuergeist und Ehrgeiz gefährlich die Waage halten. Damit hatte der Alte zwei Fliegen mit einem Schlag getroffen. Dem mächtigen BLD-Führer ^pd Thronfolgeaspiranten Charan Singh stellte er einen potentiellen Kronprinzen eigener Wahl in den Weg. Der Industrie stellte er einen Meister der Dressur gemischter Raubtiergruppen an die Spitze. Fast über Nacht gelang es Georg Femandes, das etwas angstbetonte Interesse der Arbeitgeber und zugleich auch die Hoffnungen der Arbeiter auf sich zu lenken. Täglich hält er brennende Reden. Die Industrie zwang er mit der Drohung von Enteignung und Nationalisierung, die elementarsten Forderungen der Arbeitnehmer zu erfüllen. Dem „rechts”- kommunistischen allindischen Dockarbeiterführer sagte er:„Wenn du den Streik beginnst, werde ich dich brechen”. Täglich ist George Femandes der Star des politischen Programms. An jedem Tag hofft man, morgen werde er die große Veränderung an kündigen. Der Tag der Ankündigung ist noch nicht gekommen.

Die Veränderung, die ein Sozialist auf der Linie einer Rückkehr von Nehru zu Gandhi anpeilen muß, ist die Dezentralisierung der Industrie, die Schwerpunktverlagerung von der Großindustrie unter der Kontrolle von Kapitalisten oder Bürokraten, auf die ländliche und dörfliche Betriebswirtschaft unter der Kontrolle und im Interesse der dörfischen und betrieblichen Gemeinschaften. Wird Femandes sein Programm, das letzten Endes zur Verdünnung der Industriekonzentration, also zur Machtenthaltung seines Ministeriums führen muß, verwirklichen, oder wird er es dem Druck der Janata-Mächte und seinem Ehrgeiz, Ministerpräsident zu werden, opfern?

DIE LANDLOSEN

Der wahre und große Sprung nach vorne erfolgte gleich nach dem Jana- tasieg vom 16. März. Der Chefminister des Bundeslandes Kerala mußte zurücktreten, weil der Student Rąjan während des Ausnahmezustandes von seiner Landespolizei zu Tode gefoltert worden war. Zum ersten Mal in der Geschichte des Subkontinents waren Gewalttaten der Obrigkeit an Rechtlosen nicht mehr straffrei. Und die neue Idee erwies sich als infektiös. Überall, wo die Menschen zu fordern gelernt haben, wird jetzt das Faustrecht der Polizei angefochten, Tod eines Häftlings in Polizeigewahrsam führt zur Untersuchung gegen Polizisten. Aber in den 600.000 Dörfern, in denen die Masse sich mit dem Stimmzettel artikuliert hat, herrscht wieder die Stille des Analphabetismus. Kastengewaltige und Do rfdespoten haben ihre politischen „Loyalitäten” von der Kongreßpartei auf die Janatapartei übertragen, sind aus Stützen der Kongreßmacht zu Stützen der Janata- macht geworden. Am Tage, an dem in Delhi drei Polizisten wegen Mordes an einem Gefangenen, einem Räuber, verhaftet wurden, starben im Dorfe Belchhi (Bundesland Bihar) zwölf Un- berührbare - Jarijans, Gotteskinder wurdensievomMahatmagenannt—auf dem Scheiterhaufen, der von Kastenhindus errrichtet und entzündet worden war. Die Landlosen von Belchhi - und im ganzen Land - hatten im Kampf gegen die Indira-Autorität von Janata das Fragen nach ihren Rechten gelernt. Diesen Frechlingen sollte jetzt wieder eingebläut werden, daß sie keine Fragen zu stellen haben, auch wenn Janata in Delhi herrscht. Ewiges Indien?

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