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Front gegen Richter

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Mit einem Urteil begann das Drama. Der Richter von Allahabad verurteilte die Ministerpräsidenten wegen gesetzwidriger Wahlkampfpraxis zum Entzug des aktiven Wahlrechtes auf sechs Jahre. Die Ministerpräsidentin, von einer wachsenden Oppositionswelle bedroht, reagierte mit dem Ausnahmezustand: Habeas Corpus aufgehoben, Möglichkeit der Schutzhaft ohne Einspruchsrecht des Richters. Das von der Machtgruppe der Indira Gandhi beherrschte Parlament beschloß die Verfassungsnovelle 39: Präsident und Ministerpräsident sind im Wahl-kampf gegen Wahlgesetzgebung und Gericht immun.

Doch die Anwälte der Prozeßgegner der Ministerpräsidentin brachten den Prozeß vor das Oberste Gericht. Die Verfassungsänderung widerspreche den Grundsätzen der Verfassung. Sie sei daher ungültig. Einige Wochen lang gab es klassisches großes Gericht, Plädoyers und Brillanz. Der Beschwerdeführer Maj Narayan freilich, Gegenkandidat der Indira Gandhi, saß die ganze Zeit über und sitzt heute noch in Einzelhaft. Jetzt wartet man auf das Urteil. Und für den 10. November wurden 25 andere Fälle ähnlicher Art angesetzt, Anfechtungen der Verfassungsmäßigkeit von parlamentarischen Verfassungsänderungen. Die Wartezeit ist eine Galgenfrist — für Indira Gandhi oder für das souveräne Gerichtsweisen. Doch die Entscheidung ist schon jetzt ziemlich sicher.

Wie immer der Richterspruch fallen wird, Indira hat die Macht und läßt sie sich auch von Obersten Richtern nicht entwinden. Für sie ist das unabhängige Gericht längst ein Hindernis, das fallen muß. Mit der freien Justiz fällt dann auch die letzte Säule einer westlichen Demokratie, eines Rechtsstaates. Was kommt,, .kann nur entweder Scheindemokratie, lobotomierte Demokratie sein, oder offene Diktatur.

Das indische Gerichtswesen, wie auch die indische Armee, kommt aus der englischen Tradition. Dazu gehört, daß der indische Richter, im Gegensatz zum indischen Soldaten, kein Befehlsempfänger ist. Indische Gerichtsverhandlungen sind Ruck-Wendungen in das Viktorianische England. Die Richter sind die souveränen Rechtsherren im Rechtsstreit, der vom Vertreter des Angeklagten und vom Vertreter der Krone, jetzt der Republik, vor ihnen ausgetragen wird. Die Büros der Anwälte gehören zum Rechtskomplex: enge Kabinette, die schäbigen Möbel unter Bergen von alten Reohtsbüchern unsichtbar; das Halbdunkel und der Staub sind, Wie in England, Attribute einer würdevollen Arbeitsstätte. Fast alle Führer des alten Nationalkongresses, auch der Mahatma Gandhi, kamen aus solcher Tradition.

Sie haben, als es in den Freiheitskampf ging, ihre Rechtsbüros verlassen. Aber sie haben sorgfältig darauf geachtet, daß die Rechtstradition gewahrt bleibe, oft zu ihrem eigenen Schutz. Wie viele Generationen ist das her? Jetzt haben die Erben der alten Kongreßmänner, die Machtgruppe um die Nehru-Tochter Indira Gandhi, der Tradition den Kampf angesagt. Weil englisches Recht und die Willkür der Mächtigen unvereinbar sind. Und weil die Richter sich Behren, wenn die Macht willkürlich in die Justiz eingreift. Die Justiz beansprucht die Rechtssouveränität für sich; doch die Macht hat die Auseinandersetzung geahnt und vorbereitet. Indira Ghandi wußte, warum sie, unter Umgehung der Senioritäts-regeln, den Obersten Richter selbst eingesetzt hat.

Ausnahmezustand und Justiz sind gegeneinander in Kampf geraten. Schon vor dem Ausnahmezustand gab es die Schutzhaft; ein diesbezügliches Gesetz stammt noch aus der Kolonialzeit, ein anderes aus dem pakistanisch-indischen Krieg. Das englische Schutzhaftgesetz hatte natürlich die Kontrolle durch den Richter vorgesehen, das indische ließ wenigstens den Appell an den Richter noch zu. Es galt noch das Habeas Corpus; der Richter war souverän, wenn es um Recht und Freiheit ging.

Der Ausnahmezustand hat das Habeas Corpus abgeschafft. Die letzte Gesetznovelle, soeben beschlossen, untersagt den Behörden, in Schutzhaftfällen die Haftgründe mitzuteilen und auch dem Gericht dürfen sie nicht verraten werden. Schutzhaft ist Staatsgeheimnis. Man ist von den Massenverhaftungen abgekommen, weil das selektive Versenken eines Menschen ins Dunkel des Staatsgeheimnisses furchterregender ist.

Wo es noch Möglichkeiten gibt,* greift die Justiz schützend ein. Sie befreite den kühnen Journalisten Kuldip Nayer aus der Schutzhaft. Sie stellte sich vor den Chefredakteur der „Hindustan Times“, George Ver-ghese. Sie ringt da und dort der Exekutive einen Schutzhäftling ab. Und jeder Urteilsspruch ist ein rechts-philosophiscb.es Traktat, Zeugnis dafür, daß es das Andere Indien gibt, und welche Sprache es spricht.

Die Machtgruppe um Indira Gandhi hat die Zeitungen gezähmt, die

Kommunikation von Bundesland zu Bundesland, von Stadt zu Stadt für die Massenmedien zerschnitten und auf sich monopolisiert. Aus der Stille, für die MISA-Schutzhaft und Zensur sorgen, dringt nur noch die Stimme einiger Richter. Gegen diese Richter mobilisieren jetzt die Volksfreunde, die „Linken“ in der Kongreßpartei und die reohtskommunistische Partei Indiens, die sich allesamt hinter dem Polizeistaat verbergen. Sie ließen in Bombay einen Kongreß der Demokratischen Juristen abrollen. Alles Recht gehe vom Volk aus. Das Parlament sei souverän, die Gerichtsbarkeit sei nur ein Instrument des Volksstaates. Im Parlament läßt die Machtgruppe eine Novelle nach der anderen beschließen; alle, ähnlich dem rückwirkenden Immunitätsgesetz für die Ministerpräsidentin und dem Schutzhaftgesetz mit Geheimhaltepflicht...

Das Parlament tagt hinter schalldichten Mauern. Die Zensur sorgt dafür, daß kein Wort eines Oppositionellen, kein Protest in die Öffentlichkeit dringt. Und die Mächtegruppe der Indira rollt die Front gegen die souveräne Justiz auf.

Die Justiz hat ihren großen Tag auf den 10. November angesetzt: 25 Fälle, Proteste gegen Verfassungsnovellen, die gegen die Gleichheit vor dem Recht und die Souveränität des Rechts verstoßen.

Das ganze Oberste Gericht wird der Senat sein; dreizehn Richter. Mehr als zwanzig Anwälte werden Beschwerden und Proteste vortragen. Unter ihnen die ganz Großen eines noch großen Gerichtswesens. Ein großes Schauspiel, das Monate dauern kann und das für die Beschwerdeführerin, die Demokratie, tragisch enden muß.

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