6851053-1976_47_06.jpg
Digital In Arbeit

Indira auf dem Weg zur konstitutionellen Diktatur

Werbung
Werbung
Werbung

Ist es eine Indira-Version von Maos „Hundert Blumen“, oder ist es Ausdruck der inneren Gespaltenheit ihres Regimes? Nach 16 Monaten des Ausnahmezustandes und des strengen Pressereglements gibt es plötzlich in Indien wieder Diskussionen. Es geht um die von der Regierung vorgelegte Verfassungsreform.

Sind die in der Verfassung festgelegten Grundrechte des Bürgers ma-jorisierbar? Können sie von einer Parlamentsmehrheit aufgehoben werden? Im Haus des Parlamentsklubs tagt zu ebener Erde die Konferenz für die Verfassungsreform. Im ersten Stock tagt ein Seminar der Gegner der Verfassungsreform und verwandelt sich in eine Massenversammlung der Opposition. Nur eine Treppe, kein Polizist, trennt die gegnerischen Gruppen. Ein Beispiel für zivilisierte Auseinandersetzung, gäbe es nicht noch die Drohung des Schutzhaftgesetzes und tausende politische Häftlinge in den Gefängnissen!

Demnächst wird die Kongreßpartei im Parlament, wo sie über die Mehrheit verfügt, die Verfassungsreform beschließen. Die Opposition boykottiert diese Parlamentssession mit der Begründung, daß es unter dem Ausnahmezustand und in einem Parlament, dessen Zeit abgelaufen ist, keine Verfassungsreform geben könne. In Indien fragt man sich, ob mit der Entscheidung des Parlaments die Ära relativer Toleranz wieder zu Ende sein wird, oder ob die Diskussion ein Vorspiel zu den Wahlen ist, die viele für das kommende Frühjahr erwarten. Solche Wahlen, nach Ausnahmezustand und Presseknebelung, würden dem Regime den sicheren Erfolg bringen. Doch selbst in der herrschenden Partei halten sich der Wille, autoritär zu herrschen und der Widerstand gegen den endgültigen Abschied vom demokratischen Weg die Waage.

Das Regime der Indira Gandhi hat jedenfalls seine Verfassungsreform zur Diskussion gestellt. Indira nennt ihr Werk eine „Verfassung der Souveränität des Parlaments“, die alle veralteten Barrieren auf dem Wege des Fortschritts zur Seite räumen soll. Und Indira meint damit die Beendigung der englischen Rechtspraxis, derzufolge jede Entscheidung der Regierung und des Parlaments vom Gericht auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft werden kann. Das Parlament soll die Macht haben, in bestimmten Zeiten und bei der Bewältigung bestimmter Probleme seinem Wort die Geltung eines unabänderlichen Gesetzes zu geben. In anderen, weniger existenzgestaltenden Fragen unterliegt die Parlamentsentscheidung allerdings noch dem richterlichen Spruch, doch nur eine Zweidrittelmehrheit des obersten Senats kann sie als verfassungswidrig aufheben. So unterliegen wesentliche Grundrechte des Bürgers dem Mehrheitsbeschluß des Parlaments und werden nicht mehr durch Verfassung und Höchstgericht geschützt. In Fragen, die das Schicksal der Union und einzelner Bundesstaaten betreffen, ist das Parlament souverän und das Grund- und Bürgerrecht bleibt machtgebunden.

Die Gegner der Verfassungsreform, und das sind die Gegner des Ausnahmezustandes und des Indira-Regimes, sagen, diese Souveränität des Parlaments führe zum Ende der Souveränität des Volkes, die in Wirklichkeit ja nur aus einer Gewährleistung der Grundrechte des Staatsbürgers bestehe.

Die problematischen Stellen der neuen Verfassung sind die darin kodifizierten Staatsbürgerpflichten; zusammen ergeben sie eine verfassungsmäßige Verankerung des „Staatsbürgergehorsams“. Der Staatsbürgergehorsam wird noch problematischer, wenn ihm der Verfassungsbegriff der „antinationalen Tätigkeit“ entgegengestellt wird, die zum Verbot „antinationaler Organisationen“ durch Parlamentsbeschluß führen kann. Gewiß, die aufgezählten Pflichten hören sich gut an, klingen selbstverständlich. Wer etwa will bestreiten, daß der Dienst am Staate Staatsbürgerpflicht ist? Auch die Aufzählung der antinationalen Tätigkeiten läßt noch nicht auf Willkür schließen. Wer will leugnen, daß „Aufhetzung zum Religionshaß“ außerhalb des Erlaubten liegt? Aber dann gibt es da noch die „antinationalen Tätigkeiten“, wie Gefährdung der Sicherheit des Staates, Gefährdung der Dienstleistungen des Staates. Solche Verbote „antinationaler Tätigkeiten“ in den Händen der Parlamentsmehrheit, und der Kontrolle durch Verfassungssenate entzogen, können die neue Verfassung zum Auftakt der „konstitutionellen Diktatur“ machen.

Acharya Kripalani, fast 90 Jahre alt, einst Gefährte des Mahatma, sagte bei der Gründung der „Volksliga für Staatsbürgerrechte“, die auch die Bewegung gegen die Verfassungsreform organisiert: „Als Indira im vergangenen Juni den Ausnahmezustand proklamierte, sagte sie, die Demokratie müsse aus den Schienen gehoben werden, damit man die Schienen reparieren könne. Zerstört sie mit der neuen Verfassung nicht die Bahntrasse, auf der die Schienen liegen?“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung