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Chinas trügerischer Friede

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Unter der schweren Mittagssonne Südchinas verläßt der etwas ramponierte Passagierdampfer Nr. 309 den Dashatou-Kai in Guangzhou (Kanton). Auf den drei Decks herrscht Hochstimmung: Bauern mit Körben voller Hühner, Familien, die für einige Tage zum Einkäufen oder einfach zum Vergnügen in Kanton verbracht oder aber Verwandte besucht haben, Geschäftsreisende, die für ihre Arbeitseinheiten oder Kommunen unterwegs sind.

Sie alle richten sich auf den „Langbetten“ des Schiffs ein; Sitzplätze gibt es keine, entlang den Fensterreihen ist Platz, sich auszustrecken, sich in Gruppen zusammenzusetzen oder einfach auf dem Bauch zu liegen und vom Fenster aus die vorbeiziehende Landschaft zu betrachten.

Für Ausländer ist diese Schiffsreise offiziell gesperrt, doch kümmert sich heute in China kaum eine staatliche Stelle mehr um die Reiseroute einzelner Ausländer.

Neben mir hat sich Zhang Fuli, ein Maler, eingerichtet, auf der anderen Seite ein Vorarbeiter eines kleinen Walzwerks in der Nähe von Wuzhou. Sein Name: Liu Peizhang. Der Maler Zhang stammt aus dem Norden Chinas, lebt aber seit über zehn Jahren in Nanning, der Hauptstadt der Provinz Guangi. Dort ist er Mitglied des lokalen Künstlerverbands, einer staatlichen Dachorganisation, die es in allen Provinzen gibt.

Er upd seine Frau, eine Tänzerin, gehören der dünnen Schicht Privilegierter an: mit einem Mehrfachen des durchschnittlichen Monatslohns (55 — 60 Yuan = öS 480 - 550) zahlen sie nur zwei Yuan Miete im Monat für eine große Wohnung, die ihnen vom Künstlerverband zur Verfügung gestellt wird.

Der Vorarbeiter Liu entstammt einer Bauernfamilie südlich von Wuzhou. Mit Stolz berichtet er von den neuesten Entwicklungen und Fortschritten in seiner kleinen Fabrik. Während der Kulturrevolution hätten alle Arbeiter den gleichen Lohn bekommen, unabhängig von der Produktivität. Nun aber würde es sich auszahlen, mehr zu arbeiten.

Außerdem sei seine Fabrik eine der ersten in der Provinz Guanxi gewesen, die das neue Steuersystem eingeführt habe: Produkte müssen nicht mehr an staatliche Stellen zur weiteren Verteilung abgegeben werden, sondern die Fabrik muß einen gewissen Pro zentsatz des Profits an den Staat bezahlen: „Wie in Euren Ländern, oder?“, strahlt Liu. Das Walzwerk verkauft nun seine Produkte direkt an Abnehmer in verschiedenen Provinzen.

Wie ist es mit der Geburtenregelung, frage ich neugierig. Liu und andere lachen nur verschmitzt und erzählen mir, daß die meisten Familien auf dem Land drei oder mehr Kinder haben. Die neue und strenge Vorschrift, nicht mehr als ein Kind heranzuziehen, setzt sich nur in den Städten durch.

„Ich selber habe drei Kinder“, beteuert Liu, und muß eine kritische Bemerkung des Malers Zhang einstecken, der nur eine Tochter hat. Das uralte Mißtrauen zwischen Nord- und Südchinesen konnte selbst durch die Revolution Maos nicht vernichtet werden.

Auf dem Mitteldeck ist eine heftige Diskussion entbrannt. Eine etwa 60jährige Bäuerin beteuert ihren ungläubigen Zuhörern, sie habe ein 250 Kilo schweres Schwein vor zwei Wochen um nicht weniger als 1500 Yuan ver-

kauft. Das sind ungefähr vier Jahreseinkommen eines Bauern.

Chen Feiling, wie sie sich nennt, erzählt mit Stolz von den unbeschränkten Möglichkeiten der freien Bauernmärkte, die es jetzt überall gibt. Sie ist eine typische Vertreterin der chinesischen Landbevölkerung (80 Prozent der Chinesen), der die neuen Richtlinien und Wirtschaftsmodelle der Zentralregierung besonders zugute kommen.

Die Volkskommunen, Lieblingskinder der maoistischen Landwirtschaft, weichen nunmehr in den meisten Provinzen kollektiven Familienbetrieben, wie sie bereits vor 1958 existiert hatten. Außerdem wurde das Maximalausmaß der privaten Anbauflächen drastisch erhöht, und auch die private Viehzucht wird nicht nur erlaubt, sondern sogar gefördert. Das Ziel Pekings ist es, den zum Teil katastrophal niedrigen Lebensstandard der Bauern so schnell wie möglich zu verbessern. ,

Wuzhou ist eine typische südchinesische Kleinstadt, die an der Mündung des Yujiang-Flusses in den Westfluß liegt und daher als Verkehrsknotenpunkt wichtig ist. Die Stadt bietet heute keinerlei Sehenswürdigkeiten, dafür aber einen guten Einblick in das China der postmaoistischen Ära.

Ein riesiger Marktplatz, der sich kaum von anderen in Südostasien unterscheidet, zeugt von der liberalisierten Wirtschaft, Güter aus verschiedensten Provinzen Südchinas und landwirtschaftliche Produkte werden in Mengen angeboten. Staatliche Einmischung oder Kontrolle ist nirgends zu merken.

Entlang den Straßen haben sich unzählige kleine Privatläden neben den wenigen Staatsgeschäften etabliert. Reklametafeln für Seife und Zahnpaste haben politische Slogans vollkommen verdrängt. Man gewinnt den Eindruck, daß die Politik im modernen China kaum mehr etwas zählt. Alles dreht sich um Konsum, Geld und die damit verbundenen „Vier Modernisierungen“, die das Land bis zur Jahrtausendwende in ein sozialistisches Musterbeispiel verwandeln sollen.

Die einzigen Spruchbänder, die da und dort eher bescheiden an Mauern und Türen hängen, beschäftigen sich durchwegs mit dem „Monat sozialistischer Höflichkeit und Zivilisation“. Diese eher erfolglose Massenbewegung wurde letztes Jahr von der Regierung ins Leben gerufen, um der Verrohung der Sitten vorzubeugen.

Bedingt durch die anarchistische Zeit der Kulturrevolution einerseits und durch den starken Materialismus in jüngster Zeit andererseits, haben sich Egoismus, Rücksichtslosigkeit und brutale Unhöflichkeit breitgemacht.

Von Wuzhou geht es in einem klimatisierten, japanischen Bus weiter nach Guilin. Wie eine fliegende Untertasse aus einer anderen Welt schwebt dieser Bus durch die romantischen und blutarmen Dörfer Nordguangxis.

In Guilin, dem wohl bekanntesten Reiseziel in China, abgesehen von den Großstädten, machen sich bereits die negativen Auswirkungen des Tourismus bemerkbar. Uber die arme und sicherlich nicht fröhliche Realität hat sich ein dünner Hauch des touristischen Kapitalismus gelegt, der krasse Widersprüche entstehen ließ.

Die Menschen sind bei weitem weniger herzlich als im übrigen China, und der „reiche Ausländer“ wird mehr oder weniger nur als Devisen-Melkkuh betrachtet. Eine Diskothek, Nachtlokale und Kaffeehäuser sind nur für Ausländer da und einige wenige zugelassene Chinesen.

Selbst die zauberhafte Landschaft, die Guilin umgibt und die in zahllosen chinesischen Tuschebildern festgehalten wurde, kann den schlechten Eindruck, den diese Stadt hinterläßt, nicht wettmachen.

In Guilin ist es auch, wo ich in Gesprächen die ersten offenkundigen Äußerungen der Unzufriedenheit und des Mißmuts zu hören bekomme. Überall ist es das Gleiche: der Lebensstandard habe sich in den letzten Jahren wohl verbessert; doch traut man dem Frieden nicht.

Nach über 30 Jahren der politischen Umwälzungen und Revolutionen ist jegliches Vertrauen in die Zentralregierung und in die Kommunistische Partei verlorengegangen. Vor allem die jungen Menschen, die in China in der Mehrzahl sind, lächeln meist nur spöttisch, wenn man das Gespräch auf die großen politischen Ideale der maoistischen Zeit zu sprechen kommt:

„Wir haben genug von all den Linien, Kämpfen und Massenkampagnen! Wir wollen in Frieden leben und die versäumten Jahre wenn möglich einholen“,

versichert mir ein junger Arbeiter. Die gegenwärtige Regierung genießt nicht mehr Vertrauen als jene unter Mao. Man wartet ab, ob nicht früher oder später ein neuerlicher Kurswechsel das ganze Land wiederum in Unruhe und Chaos stürzen wird.

Eben diese passive Haltung der meisten Chinesen macht der Regierung und ihren reformfreudigen Führern schwer zu schaffen. Will China seine ehrgeizigen Ziele bis zum Jahr 2000 erreichen, so muß vieles sehr schnell reformiert und reorganisiert werden.

Mit dem passiven Widerstand der meisten Kader und Parteimitglieder in mittleren und unteren Ebenen aber geht nicht viel vorwärts. Die kürzlichen und für China friedlichen Parteisäuberungen zeugen von dem Bestreben Pekings, diese Hindernisse aus dem Weg zu schaffen.

Fazit dieser Reise durch Südchina: Die über eine Milliarde Menschen in China werden noch lange auf den ersehnten Lebensstandard warten müssen, wie ihn die „ausländischen Gäste“ präsentieren. Die letzten Jahrzehnte haben Wunden geschlagen, die noch nicht verheilt sind.

Die im Text vorkommenden Namen von chinesischen Gesprächspartnern wurden vom Verfasser geändert.

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