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Die Zeit des WeißenTigers

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Der Weiße Tiger ist ein uraltes chinesisches Symbol. Er steht für Westen, für Paradies, für Metall. Und er soll Dämonen abwehren, Schutz spenden.

Die Zeit des Weißen Tigers aus dem alten Reich der Mitte scheint in der Volksrepublik China bei ihrer Suche nach neuer Mitte angebrochen: Öffnung gegen Westen, eine im Jahrzehntevergleich geradezu paradiesische Wirtschaftsblüte mit bescheidenem Wohlstand, Reformen, in klingende Münze umgesetzt, und eine radikale Verjüngung der Führungsschicht, die jene Kräfte eliminiert, die den neuen Kurs bedrohen könnten.

China-Reisenden vergangener Tage ergeht es ebenso wie Erstbesuchern in der Milliardenrepublik: Sie kommen ausdem Staunen nicht heraus. China hat sein Gesicht — durchaus positiv — verändert.

Eigentlich macht die Volksrepublik heute nicht den Eindruck eines kommunistisch regierten Landes. Jedenfalls zeigt der Sozialismus ein freundliches Gesicht, wie man es im sowjetischen Vorfeld Europas vielleicht noch in Ungarn antrifft.

Die Phase der Reform, die nach dem Tod Maos und dem Sturz der „Viererbande“ im Jahr 1976 eingeleitet wurde, wird von den Volksmassen begeistert mitgetragen. Die Chinesen sind anpassungsfähig.

Das ist ein Vorteil, der sich augenblicklich in Nachteil umkehren kann: Sie haben auch bisher alle Kehrtwendungen mitgemacht, haben in den letzten Jahrzehnten begeistert jeden Zickzackkurs mitgetragen, letztlich auch die sogenannte Kulturrevolution.

Deng Xiaoping, heute Chinas starker alter Mann, symbolisiert diese besondere Art der chinesischen Flexibilität. Er wurde gestürzt, kam wieder, wurde neuerlich verdammt und wird heute bejubelt.

Richtig ist: Sein Reformkurs der „Vier Modernisierungen“ — die FURCHE wird sich in den nächsten Wochen damit eingehend auseinandersetzen — zeitigt seit 1978 unleugbare Erfolge, vor allem wirtschaftlich.

„Geschäft ist Geschäft“, sagt Vizeaußenminister Zhou Nan, was den Eindruck vermitteln könnte, daß Marx gegenüber dem Profit heute das Nachsehen hat.

„Die Reform ist eine Vervollkommnung des sozialistischen Systems. Sie erfolgt unter der Voraussetzung der Beibehaltung des Sozialismus unter der Leitung von Partei und Regierung.“ Das ist der Schlüsselsatz, den—wie Vizeaußenhandelsminister Jia Shi— viele chinesische Gesprächspartner in diesen Tagen wiederholen.

Der gravierende Unterschied zu früher: Für Mao Zedong war Sozialismus noch das Ziel, seine heutigen Erben wähnen ihn bereits im festen Besitz.

Zweifel am Fortbestand des Sozialismus in China, wie sie von manchen Beobachtern geäußert werden, sind freilich voreilig. Der Marxismus bleibt die Grundlage, allerdings für chinesische Verhältnisse adaptiert. Und auch das ist so neu nicht.

ZK-Sekretär Deng Liqun schwört auf Flexibilität: „Wir müssen die Ideen von Marx bis Mao erst analysieren und dann anwenden. Die Theorie muß mit der chinesischen Realität zusammenpassen.“ Die Devise „Die Wahrheit liegt in den Tatsachen“ rechtfertigt den gegenwärtigen Kurs. Und der ist durch und durch pragmatisch. Eigenverantwortung, Leistungsprinzip, Exper-tentum, Profitdenken sind die Früchte, Konsumrausch, Korruption, Steuerhinterziehung und Schmuggel fallen als faules Obst an.

Manche alte Parteiveteranen können die Welt nicht mehr verstehen, auch wenn sie es nicht öffentlich einbekennen. Für sie kommt die Stunde des Abschieds von der Macht.

Deng Liqun hat es am eigenen Leib erfahren. Als Propagandadirektor hat er vor einiger Zeit noch die Kampagne gegen Verbürgerlichung und geistige Umweltverschmutzung im Gefolge der Öffnungspolitik geleitet. In dieser Eigenschaft wurde der Gesprächspartner abgelöst: „Ich bin nach der Entscheidung der Partei älter geworden“, erklärt er österreichischen Journalisten unter herzhaftem Lachen.

Jetzt hat dieses Schicksal 141 andere Parteiveteranen ereilt. In der außerordentlichen Parteikonferenz, die am Mittwoch begonnen hat und die bis zum 23. September tagen wird, kommt es zur radikalen Verjüngung der Entscheidungsgremien. Deng Xiaoping trennt sich von Altersgenossen, denen das Tempo der Liberalisierung zu rasant war.

Außerordentlich ist dabei schon das Forum. Erst einmal, nämlich 1955, hat es eine derartige Konferenz gegeben. Damals säuberte Mao die Partei.

Säuberung im klassischen Sinn ist das heute keine, vielmehr haben die Veteranen „freiwillig“ jüngeren Kräften Platz gemacht. „Es bedarf der Bemühungen mehrerer Generationen“, erklärt Deng Liqun die Verjüngungskur von Ideologen zu Pragmatikern. Womit sich die Partei ihre Rolle als Schwungrad der Entwicklung sichert. Denn darüber kann wohl kein Zweifel bestehen: Die jungen Kräfte kommen handverlesen in die Führungsgremien. Sie sind zum „richtigen Denken“ erzogen, haben die Kaderschmiede hinter sich.

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