Die Schwäche des Tigers

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Die Furche-Herausgeber

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Ein junger Chinese wird Millionär. Was er denn alles gelernt habe, um es so weit zu bringen, möchten Neugierige wissen. "Gar nichts“, sagt der junge Mann, "meine Eltern haben einfach alle Schulgelder und Studiengebühren, die sie bei mir eingespart haben, auf ein Konto gelegt - und mir irgendwann geschenkt.“

Ein Witz aus der Volksrepublik China, der den Istzustand im letzten kommunistischen Großreich beleuchtet: Der einstige Bauern- und Arbeiterstaat hat seine alten Prinzipien von sozialer Gerechtigkeit und Nivellierung der Klassen längst einem radikalen Turbo-Kapitalismus geopfert, ohne dabei sein autoritäres Einparteiensystem in Frage zu stellen.

"700 Millionen - 700 Soldaten“

Für unsereins eine mehr als irritierende Entwicklung: Haben wir doch immer beschworen, dass die Trias aus Marktwirtschaft, Demokratie und Rechtsstaat unbedingt zusammengehöre.

40 Jahre sind bald vergangen, seit ich ein erstes Mal in China unterwegs war. "700 Millionen Chinesen - 700 Millionen Soldaten!“ stand damals auf roten Spruchbändern. Heute sind es 1,4 Milliarden Chinesen, ein Fünftel der Weltbevölkerung. Und aus Maos Soldaten sind Manager und Techniker geworden.

Damals waren Hunger-Katastrophen noch tragische Normalität. Heute sitzt China auf über drei Billiarden Dollar Währungsreserven, während die westliche Welt verzweifelt nach Fluchtwegen aus der Schuldenkrise sucht. Stück für Stück kauft die Volksrepublik immer mehr vom globalen Wirtschaftskuchen auf. Je nach Stimmungslage schwanken deshalb auch bei uns die Schlagzeilen zwischen "Erobert China die Welt?“ und "Rettet Peking die Welt?“

Dieser Tage saß in Wien eine kleine Schar von Interessierten zusammen, um das gängige Bild vom unaufhaltsamen Siegeszug des asiatischen Tigers - als globaler Zahlmeister, als Konjunkturmotor, ja als mögliche Alternative zum westlichen Lebensmodell - einer Überprüfung zu unterziehen. Und sie stieß hinter dem glänzenden Firnis bald auf Fakten, die alarmieren: eine totale innere Zerrissenheit Chinas zwischen gnadenloser Bereicherung und bitterster Armut, zwischen Repression und Demokratisierungsdruck, zwischen Bewunderung für Amerika und neuer Mao-Nostalgie. Dazu eine verängstigte Führung, gebeutelt von ideologischer Ratlosigkeit, aufbegehrenden Intellektuellen, protestierenden Bauern, verzweifelten Wanderarbeitern, von Inflation und Immobilienblase, der unausweichlichen Folge fulminanter Wirtschaftszuwächse.

Berechenbar unberechenbar

Was wird aus China, wenn diese Widersprüche einmal die Straßen erobern? Wenn die Kluft zwischen Siegern und Verlierern, zwischen Öffnung und Diktatur, zwischen Markt und KP-Allmacht zu groß wird? Wenn das arabische Beispiel Schule macht? "Unberechenbarkeit ist im China von Heute das einzig Berechenbare“, meinte ein Experte düster. Das Riesenreich - ein Stabilitätsanker und Pulverfass zugleich.

Die Erfahrung sagt: Nichts ist schwächer als ein starkes Regime. Im Falle Chinas ist das zutiefst beunruhigend. Denn: "Wenn sich China erhebt, erzittert die Welt.“ (© Napoleon).

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