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LIU SHAO-CHI / DER ROTE KRONPRINZ

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Das Augenmerk der Welt ist von Nahost auf Fernost gerückt. Während in den arabischen Ländern oft die Leidenschaften regieren, sind es hier in China kalte Berechnung und nüchternes Denken. Denn nur einer befiehlt und drückt auf den unsichtbaren Knopf. Ein einziger, und Millionen ziehen über die Straßen, das ganze Volk gerät in Aufruhr. Wenn ein einziger befiehlt, einer ...

Sein Arbeitszimmer hat er gleich neben dem Tor des himmlischen Friedens in Peking. Und er sitzt gleich neben Mao Tse-tung, dem Herrscher der riesigen chinesischen Massen. Er aber befiehlt und drückt auf den Knopf, er ist der Kronprinz der roten Dynastie: Li u S h a o - c h i.

Keiner weiß genau, wer er ist, aber jeder spürt seine Macht.

Er sagt, er liebe die Blumen, aber nur die roten. Die Amerikaner sagen, er sei ein Russe. Doch er ist chinesischer als alle zusammen, die hier die Macht haben. Seine Heimat ist Hunan, die „Reisschüssel Chinas“, jene Provinz, die die Brutstätte der Revolutionäre ist. Seine Feinde behaupten, er könne weder lesen noch schreiben. Dabei studierte er Pädagogik, wollte Lehrer werden, war Lehrer und schulmeistert heute das größte Volk der Erde.

Seine Macht ist unendlich groß, selbst der Kreml muß sie anerkennen.

Sie reicht von den Dschungeln an den Grenzen Burmas 5000 Kilometer hoch hinauf bis an die Eiswüsten Sibiriens. Seine kleine, feste chinesisch? Hand liegt auf der

Achtmillionenstadt Schanghai und auf den Gletschern des Karakorums. Wenn er den Mund öffnet, unterbricht vielleicht Eisen-hower' sein Golf spiel, ärgert sich Tito, wird Gomulka unruhig, macht sich Chruschtschow seine Gedanken. In seinen Reden pflegt er Schicksal zu spielen, seine Worte treffen immer die richtige Adresse. Tito hat ihm die jüngste Kampagne des Ostblocks zu verdanken, denn er sprach das härteste Urteil über ihn. Er gab den Russen die nötige Rückendeckung für ihr Eingreifen in Ungarn. Gomulka weiß genau, daß er den Druck auf Polen ausübte, nicht zu selbständig zu werden. Er wettert in Asien mit großem Erfolg gegen die Amerikaner.

Die anderen „Großen“ des roten Reiches der Mitte sind zu Nebenfiguren geworden. Nein, man weiß es heute. Wenn es nach dem Buchstaben der Verfassung ginge, hätte der hagere, 60jährtge Liu mit dem strähnigen, silbergrauen Haar und den müden, ernsten Augen sogar noch mehr Macht, mehr persönliche Verantwortung zu tragen als der dicke, onkelhafte Mao Tse-tung.

Liu ist der Vorsitzende des chinesischen Parlaments, das aber nur zweimal im Jahr zusammentritt. Er ist der Vorsitzende eines Ausschusses, dem die Regierung verantwortlich ist, der über Krieg und Frieden entscheidet und der die Mobilmachung befehlen kann.

Die anderen 66 Männer und Frauen um ihn sind meist Puppen, wie der Dalai Lama. Neben Mao Tse-tung ist er der wichtigste

Mann im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei, das die Allmacht verkörpert, auch in Peking.

Ueber diesen Menschen, der „der Ulbricht Chinas“ genannt wird, gibt es nicht viel Menschliches zu berichten. Liu hat alle Stationen in Partei, Wirtschaft und Armee durchlaufen. Er war Arbeiterführer, Wirtschaftsplaner und Generalstabsoffizier. Er bewaffnete die Kulis von Schanghai und führte sie in den Kampf. Er versprach ihnen ein menschenwürdiges Leben, achtstündige Arbeitszeit und ärztliche Hilfe — und er hielt Wort. Von ihm stammt die Verfassung der KP und die Verfassung des neuen China.

Er will, daß die Chinesen in zehn Jahren dasselbe technische Niveau erreicht haben sollen wie die westlichen Völker. In fünfzehn Jahren soll China England in der Industrieproduktion geschlagen haben. Immer neue Pläne — neue Ziele. In vierzig Jahren will Liu die Amerikaner längst überflügelt haben. Tausend Ziele, tausend Parolen, hinter denen ein eiserner Wille steckt.

So ist es im neuen China der Kommunisten. Einer drückt auf den unsichtbaren Knopf, und Millionen marschieren mit einer Handvoll Reis in der Tasche. Gestern in Protestmärschen vor der englischen Botschaft in Peking wegen des Eingreifens im Nahen Osten, heute in der Straße von Formosa. Und morgen?

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