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Mao — Legende und Wirklichkeit

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Durch seinen Bruch mit Moskau schuf Mao ein neues Weltbild. Aus der Bi polarität wurde die Tri Polarität. Diese Machtkonstellation in der Weltpolitik hat heute noch Geltung.

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Durch seinen Bruch mit Moskau schuf Mao ein neues Weltbild. Aus der Bi polarität wurde die Tri Polarität. Diese Machtkonstellation in der Weltpolitik hat heute noch Geltung.

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Er wurde in einem kleinen Bauernhaus des Dorfes Shaoshan in der Provinz Hunan geboren und war fast ein Christkind. Sein Geburtstag der Stefanitag, der 26. Dezember 1893. Nach dem chinesischen Kalender klingt es freilich weit romantischer: es war in der Stunde des Drachens, am Tag des roten Hahns, im Monat der grünen Maus, im Jahr der schwarzen Schlange. Doch die Parteibüd-hauer hielten sich an Papst Gregor und errichteten in der Provinzhauptstadt Changsha eine Mao-Statue von genau zwölf Metern und 26 Zentimetern — für den 12. Monat und den 26. Tag der Geburt. Sie steht heute noch.

Das Los, China aus dem Feudalismus ins 20. Jahrhundert zu führen, traf weder einen Armen noch einen Proletarier. Maos Vater war nach unseren Begriffen ein wohlhabender Mittelbauer. Aber gerade gegen ihn führte der junge Mao seine ersten Klassenkämpfe, wie er später scherzend erzählte. Er weigerte sich, dem Brauch folgend, einem zehnjährigen Mädchen zur späteren Ehe verpflichtet zu werden. Und er drohte seinem Vater mit Selbstmord, sollte ihn dieser noch einmal prügeln. Schließlich löste er das Problem, indem er von zu Hause fortlief.

Mao Zedong marschierte als Bettler durch das Land, um sein Volk kennenzulernen. Seine gesamte akademische Laufbahn war die Absolvierung des Lehrerseminars in Changsha, wo die Helden seiner Studentenzeit Napoleon, Peter der Große, Wellington und Lincoln waren.

Mit 18 erlebte er den Sturz des Kaiserreiches, mit 24 die Ideen der Russischen Oktoberrevolution. Vier Jahre später begründete er mit elf Kampfgefährten in einem Shanghaier Hinterzimmer und auf einem Boot am Wangpo-Fluß die Kommunistische Partei Chinas.

Mao zog aus, in einem lebenslangen Kampf mit der Machtergreifung durch seine Partei vier große Probleme in Angriff zu nehmen:

Erstens, den Marxismus, eine mitteleuropäische Ideologie und Phüosophie der deutschen Kleinbürger Karl Marx und Friedrich Engels und des russischen Provinzintellektuellen Vladimir Ilitsch Lenin, zum erstenmal in einem asiatischen Land anzuwenden, ihn zu sinisieren.

Zweitens, diese Lehre von der proletarischen Revolution in einem Land ohne Proletariat, in einem Land von 90 Prozent Bauern, zu verwirklichen.

Drittens, die Abgründe der chinesischen Gesellschaft zu überwinden, das heißt die Kluft zwischen Stadt und Land, zwischen Industrie und Landwirtschaft, zwischen Intellektuellen und Bauern, aber auch die Kluft zwischen den Parteikadern und den Massen.

Und schließlich viertens, auf dieser Basis den neuen Menschen zu schaffen, einen selbstlosen, ehrlichen, opferbereiten Menschen, der auf materiellen Anreiz, Vorteile und Privüegien verzichtet und bescheiden seinen Platz als Diener der Gemeinschaft einnimmt. Eine Aufgabe, an der vor Mao Zedong im Laufe der Jahrtausende so mancher Weise, Philosoph, Religionsstifter, Weltverbesserer und Staatsmann gescheitert ist.

Die Stationen im Leben Maos sind bekannt und markant: Einheitsfront mit der nationalistischen Guomindang unter Chiang Kai-shek, gefolgt von Verrat, Bruch und Bürgerkrieg — der legendäre Lange Marsch - Kampf gegen die japanische Aggression - neuerlich Bürgerkrieg und schließlich Sieg - Gründung der Volksrepublik.

Die ersten Jahre der Volksrepublik waren erfüllt von Enthusiasmus und stürmischem Elan, auf den Trümmern von 30 Jahren Krieg und Bürgerkrieg einen neuen Staat zu errichten. Im kurzen Zeitlauf einer Generation hat Mao nicht nur das Bild Chinas, sondern das Weltbild verändert. Und wenn das Marxwort gilt, die Philosophen hätten bisher die Welt nur unterschiedlich interpretiert, seine Lehre aber wolle sie verändern, so hat Mao wohl mehr dazu getan — unter Verletzung der Spielregeln des etablierten Marxismus-Leninismus — als jeder andere Parteiführer der Länder des „realen Sozialismus“. Verständlich, daß Mao vor allem in den ersten Jahren seiner Herrschaft für Millionen eine Art Heiland wurde, der die Hungrigen speiste, die Nackten kleidete.

Und dann kam der große Bruch. Auf die glorreichen Jahre folgten solche des Schreckens. Besessen von dem Wunsch, den Wettlauf mit der Zeit zur Verwirklichung seiner Ideen zu gewinnen, veränderte Mao immer tiefgreifender das Leben der Milliarde seiner Mitbürger — und veränderte damit sein eigenes Leben.

Es begann mit dem großen Sprung — dem dilettantischen Versuch, durch die Herstellung von Eisen in Kleinschmelzöfen das Bewußtsein der Bauern in ein proletarisches zu verwandeln, begleitet von einer Massenindustrialisierung. Es folgte die Gründung der Volkskommunen, gigantischer Kolchosen, für deren Funktionsfähigkeit alle administrativen, technischen, aber auch bewußtseinsmäßigen Voraussetzungen fehlten.

Grausamer Höhepunkt dieser Politik wird schließlich die Kulturrevolution — der Name allein makabre Ironie —, in der Mao auf der Grundlage der im Westen gesunden Idee, die Etablierung einer Elite zu verhindern, zur Rebellion gegen das eigene Establishment aufruft.

Mao Zedong zerschlägt damit wesentliche Teile des von ihm selbst geschaffenen Lebenswerks und wirft China auf den Gebieten Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Erziehung um 20 Jahre zurück. Die völlige Entartung der Revolution endet mit der Machtergreifung einer usurpatorischen Clique in Gestalt der Viererbande unter der Führung der Mao-Witwe Jiang Qing, die China ins Chaos und an den Rand des Bürgerkriegs treibt.

Allem verbalen Sozialismus zum Trotz rollt das Szenarium getreu nach den historischen Vor-büdern feudaler Palastrevolutionen ab. Selbst die Zeichen des Himmels kündigen untrüglich an, daß das Mandat des Kaisers zu Ende geht: Im Jänner 1976 stirbt Ministerpräsident Zhou-enlai, Anfang Juli der legendäre Kommandeur der Roten Armee, Marshall Zhu De. Ende Juli schließlich das untrügliche Zeichen für dynastischen Wechsel in China — das verheerende Erdbeben in Tangshan. 45 Tage später, am 9. September stirbt Mao Zedong.

Nach Jahrhunderten der Zer-. rissenheit hat Mao Chinas nationale Einheit verwirklicht.

Mao war vieles in einer Person— Dichter und Kalligraph, Militärstratege und Philosoph, Rebell und Reformer, Staatsmann, Politiker und Lehrer. Aber der Glorienschein der Unfehlbarkeit nach der Tradition der altchinesischen Gottkaiser mußte dazu führen, daß auch Mao — wie alle seine Vorgänger—den Sinn für die Realität verlor, die Welt so sah, wie er sie sehen wollte, und nicht, wie sie wirklich war. Beseelt von der Macht des Wunschdenkens, häuften sich die unbesonnenen Projekte, die wülkürlichen Anordnungen, die absurden Pläne, die eigenwilligen Aktionen.

In der bildhaften Sprache der Chinesen hat Maos ehemaliger Sekretär Hu Qiaomu die im wahrsten Sinne des Wortes „Entgleisung“ Maos dargestellt: „Mao hat den chinesischen Zug mit überhöhter Geschwindigkeit die Strecke entlanggejagt und kam plötzlich unerwartet in eine Kurve. Er glaubte das Terrain zu kennen und den Zug durchzubringen. Aber die chinesische Landschaft war eben anders als Mao sie sich in seinem Wunschdenken vorstellte. Deshalb konnte der rasende Zug die Kurve nicht nehmen und entgleiste.“

Hu wurde während der Kulturrevolution aller Ämter enthoben und verfolgt. Er ist heute Mitglied des Politbüros der Partei und einer der führenden Exponenten der Reformpolitik Deng Xiao-pings.

In den zehn Jahren seit dem Tod Mao Zedongs hat sich China gründlicher verändert als in den 27 Jahren, in denen Mao an der Spitze der Volksrepublik (in der Funktion des Parteivorsitzenden) stand. Die neue marktwirtschaftliche Politik der chinesischen Führung, die Politik der Öffnung des Landes, der engen Beziehungen zum Westen, der Ausrichtung auf das Konsumdenken, der bisher weitestgehenden kulturellen und wissenschaftlichen Freizügigkeit ist eine direkte Negation des Maoismus, auch wenn Mao nach wie vor in seinem Mausoleum ruht und (an den eher seltenen Öffnungstagen) von Tausenden besucht wird.

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