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Rote Bibeln für die Abendländer

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Lenin sagte, der Weg der entscheidenden kommunistischen Einflußgewinnung in Europa führe über Peking und Kalkutta. Heute will allerdings Peking in Europa Fuß fassen, aber für eigene Rechnung. Dieser Kampf um Europa, in dem Moskau als Gegner Chinas auftritt, spielt sich dermaßen im Untergrund ab, daß sich wenige Europäer, ja nicht einmal eine Reihe europäischer Staatsführungen, über das Ausmaß dieser für Europa Schicksalshaften Auseinandersetzung im klaren sind.

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Lenin sagte, der Weg der entscheidenden kommunistischen Einflußgewinnung in Europa führe über Peking und Kalkutta. Heute will allerdings Peking in Europa Fuß fassen, aber für eigene Rechnung. Dieser Kampf um Europa, in dem Moskau als Gegner Chinas auftritt, spielt sich dermaßen im Untergrund ab, daß sich wenige Europäer, ja nicht einmal eine Reihe europäischer Staatsführungen, über das Ausmaß dieser für Europa Schicksalshaften Auseinandersetzung im klaren sind.

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Ein Teil der für Europäer r bestimmten Pekinger Propagandaschriften ermuntert sie, „die Fesseln der sowjetischen und amerikanischen Einflußgewinnung in Europa abzuschütteln”. Bei der westdeutschen Bundestagswahl im Jahre 1969 forderten maotisch orientierte Gruppen die Wähler auf, die Wahlen zu boykottieren. „Zum Teufel mit Kiesinger, zur Hölle mit Ulbricht”, stand auf ihren Plakaten. Gleichzeitig mit dem Ausbau Albaniens zum militärischen und propagandistischen Stützpunkt Pekings in Europa wird die Schaffung eines rotchinesischen’ Untergrundes in anderen Teilen Europas eifrig vorangetrieben. Und Hand in Hand mit dem „Kampf um Europa” geht die ständige Verbesserung der nach Ansicht von Fachleuten gut funktionierenden Pekinger Informationsdienste.

Nach Äußerungen von Fachleuten war noch bis vor etwa acht Jahren die rotchinesische Spionage in Europa so gut wie unbekannt. Erst im Zuge der zunehmenden Verfeindung der beiden kommunistischen Großmächte trat sie in zunehmendem Maße in Erscheinung., und nach vielen Beobachtungen ‘ bestünden heute zwischen den Geheimdiensten Moskaus und Pekings in Europa sehr große Spannungen.

Fachleute schätzten schon vor -zwei Jahren, daß die rotchinesische Propaganda für Europa über gewaltige Geldmittel im Betrage von mindestens zwei bis drei Milliarden Schweizer Franken im Jahr,verfügt. Als wichtiger Stützpunkt, in dem viele Fäden der „ideologischen Eroberung Europas” zusammenliefen, galt in der Zeit vor der Besetzung der Tschechoslowakei Frag, und nachher Bern. Dann soll vor allem in Anbetracht des vorzüglich funktionierenden, ebenso streng wie korrekt arbeitenden Schweizer Abwehrapparates die zentrale Leitung der rotchinesischen Unterwanderung nach Paris verlegt worden sein, von wo aus sie erfolgreicher tätig sein kann. Es fiel auch auf, daß z. B. das in dem vornehmsten Pariser Vorort gelegene rotchinesische Botschaftsgebäude nicht fertig gekauft, sondern vom Botschaftspersonal selbst fertiggestellt wurde, möglicherweise um dem raffinierten’ Einbau von Überwachungsgeräten vorzubeugen. Das Personal der Pekinger Botschaften und Handelsmissionen wird auch von rotchinesischer Seite scharf überwacht und wird zum Teil auch in China schärfstem kritisiert. Es muß sich sogar gelegentlich den Vorwurf gefallen lassen, bei der Arbeit, in Europa die Weltrevolution zu fördern, nicht genug Eifer an den Tag zu legen, sich mehr, als zur Tarnung nötig wäre, den Lebensstil der Bourgeoisie anzueignen, und es hätte oft nicht einmal eine einzige Ausgabe der Ausgewählten Werke Mao Tse-tungs bei sich, die ja in Peking offiziell als „unermeßlicher Ozean der Weisheit” und als „Buch mit einer größeren Macht als die Atombombe” bezeichnet werden.

Die für Europa bestimmten Auslandssendungen von Radio Peking haben in zehn Jahren um mehr als das Zehnfache zugenommen. Die rotchinesischen Splitterparteien und pekingfreundlichen kommunistischen Zeitungen erhalten beträchtliche Zuwendungen; angeblich kostete Rotchina die Schaffung einer einzigen pekingtreuen Splittergruppe in Italien den Betrag von 750 Millionen Lire.

Für europäische Leser wirken manche Überspitzungen in rot- chinesischen Propagandaschriften unglaubwürdig, wie z. B. wenn sie berichten, daß dank der übermenschlichen Kraft der Thesen Mao Tse-tungs sogar bei hochgradigen Verbrennungen mit sonst tödlichem Ausgang beachtenswerte Heilerfolge erzielt wurden, und dergleichen. In einer das heutige Christentum herabsetzenden Broschüre wurden z. B. die Kreuzzüge als „religiöser Kolonialismus” (!) bezeichnet.

Alles in allem will heute Peking offenbar Sowjetrußland vom Osten und vom Westen her gleichzeitig in die Zange nehmen. Dem Amerikaner, der am meisten sein Vertrauen genießt, Edgar Snow, sagte Mao Tse-tung, ebenso wie ihn besuchenden japanischen Persönlichkeiten, daß er ein von sowjetischen und amerikanischen Einflüssen losgelöstes Europa als die wirkliche „Dritte Kraft” in der Welt betrachte. Und Tschu En-lai forderte kürzlich neuerlich den „Abzug aller nichteuropäischen Truppen aus Europa”. Es gibt auch Asienkenner, die aus verschiedenen Anzeichen zu erkennen glauben, daß die rotchinesische Staatsführung auch eine deutsche Wiedervereinigung nicht bekämpfen würde, wenn eine Möglichkeit bestünde, ihre Befürchtungen auszuschalten, daß ein geeintes Deutschland zu sehr unter sowjetischen Einfluß geraten könnte. Es ist daher auch in dieser Hinsicht nicht erstaunlich, daß man in verschiedenen Teilen Deutschlands und anderen Ländern Europas den allerdings von manchen als übertrieben bezeichneten Kommentar hören konnte: „Das Schicksal Europas entscheidet sich in Asien.”

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