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Zuspitzung im Fernen Osten

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Die Verlagerung des Schauplatzes der blutigen Grenzkämpfe vom Ussuri nach Sinkiang und der sich abzeichnende Ausbruch Südvietnams und Thailands aus der Koordination der neuen amerikanischen Vietnampolitik haben ernste Folgen. Chinakenner in Hongkong, Formosa und anderen Ländern im Bereich des chinesischen Kolosses halten einen baldigen Kriegsausbruch zwischen den beiden kommunistischen Weltmächten für unwahrscheinlich. Sie sind aber der Ansicht, daß Rotchina an der Fortdauer lokaler Kämpfe interessiert ist, „um die Geschlossenheit des maotischen Staates zu stärken” und „um eine Kriegspsychose zu erzeugen, durch welche die Führung die Bevölkerung noch fester in die Hände bekommt”. Auch betrachten sie die chinesischen Anklagen, daß Sowjetrußland mit den Kämpfen begonnen habe, als unglaubwürdig, vor allem schon deshalb, weil die Auseinandersetzungen im fernsten Osten begonnen haben, wo die Nachschublinien der Sowjetunion am längsten und verwundbarsten sind.

„Maginotlinie” entlang der Grenze

Die nunmehrige Verlagerung des Hauptschauplatzes der Kämpfe nach Sinkiang erfüllt nach Berichten verläßlicher Gewährsmänner auch Regierungskreise in Pakistan und Indien mit großer Besorgnis. Pakistan steht im Rahmen des möglichen auf der Seite Rotchinas (Luftmarschall Nur Khan, der jetzt als Vertreter des Staatsoberhauptes in Peking war, erklärt, daß „Peking keine aggressiven Ziele verfolge”), während Indische Regierungskreise ganz anderer Ansicht sind. Man erfährt auch, daß Frau Indira Gandhi vertraulich in sowjetische Pläne zur „Einkreisung Rotchinas” eingeweiht wurde. Tschu En-lai wird in absehbarer Zeit nach Pakistan reisen, um dort „die Ausschaltung sowjetischer Einflüsse energisch in Gang zu setzen”.

Uber alle indisch-pakistanischen Gegensätze hinweg dominiert aber in beiden Ländern die Furcht vor dem Ausbruch eines wirklichen Krieges zwischen China und den Sowjets, der auch durch den zentralen Planungen entgleitende Kettenreaktionen lokaler Gefechte entstehen könnte. Sogar die Führung des Himalayastaates Nepal ist in diesen Tagen darauf bedacht, sich aus den Folgen eines solchen Krieges herauszuhalten und hat soeben die Räumung der indischen Militärposten entlang der chinesischnepalesischen Grenze gefordert.

Reisende und Flüchtlinge aus Rotchina berichten über gewaltige Kriegsvorbereitungen einschließlich der Einlagerung von Nahrungsmittelreserven und kriegswichtigem Material. Auch die Arbeiten zur Schaffung eines gewaltigen Netzes unterirdisch angelegter Verteidigungsanlagen’ entlang der Grenzen Sowjetasiens werden eifrig vorangetrieben. Diese großteils geheimgehaltenen Arbeiten zum Ausbau ausgedehnter Verteidigungsstellungen, die vor sechzehn Monaten unter der Leitung Lin Piaos begonnen wurden und heute in Pekinger Gesprächen führender Rotchinesen als „Arbeiten an Mao Tse-tungs unterirdischer Großer Mauer” bezeichnet werden, wurden bezeichnenderweise gleich nach der vorjährigen Besetzung der Tschechoslowakei noch energischer vorangetrieben.

Im Gegensatz zur Maginotlinie, die bekanntlich bei Ausbruch des zweiten Weltkrieges gründlich ausgekundschaftet worden war, scheint es Rot china dank seiner fünf sich überschneidenden Polizei- und Abwehrorganisationen und der Unzugänglichkeit vieler Grenzzonen gelungen zu sein, die genaue Lage und Einzelheiten dieser militärischen Anlagen geheimzuhalten.

Solidarität gegen Mao

Obwohl die Pekinger Machthaber nicht mit einem wirklichen Krieg gegen China zu rechnen scheinen, halten sie es jedenfalls für möglich, daß ein Überraschungsangriff zur Demütigung des maotischen Regimes mit einem Vorstoß gegen die Zentren der rotchinesischen Atomaufrüstung in Sinkiang trotz allem im Bereich der Möglichkeiten liegt. In diesem Zusammenhang machten kürzlich westliche Kommentatoren darauf aufmerksam, daß Breschnew vor kurzem erklärte, daß Moskau im Konflikt mit Mao „hart” sein müsse, ohne sich jedoch au einem unbedachten Vorgehen provozieren zu lassen. Hiezu stellte ein Kommentator die Frage, ob diese Mahnung wirklich an die Maoisten gerichtet sei, oder aber an die eigenen Generale. Kürzliche „Enthüllungen” in Westeuropa über angebliche Absichten der sowjetischen Militärs, im September 1969 einen Krieg mit Rotchina 2u beginnen, wirkten wie Wasser auf die Mühlen der rotchinesischen Propaganda. Peking benützte sie zur Stärkung des Fanatismus indoktrinierter Kulturrevolutionäre und als Propagandamaterial für die Betonung der Notwendigkeit einer aufopferungsvollen, integralen Landesverteidigung unter Teilnahme der gesamten Bevölkerung. Was die Glaubhaftigkeit solcher „Enthüllungen” anbelangt, so erinnert man sich daran, daß etwa kurz vor dem vor jährigen Einmarsch in die Tschechoslowakei die sowjetische Führung auch durca Lavieren Verwirrung schuf.

Alles in allem haben die besten Asienkenner den Eindruck, daß die Lage im gesamten inner- und süd- asiatischen Raum, welcher heute im Kräftespiel der auf ihre eigenen Interessen bedachten drei großen Weltmächte liegt, in letzter Zeit immer chaotischer geworden ist. Mit Recht oder Unrecht stehen dort Staatsführungen und Völker immer mehr unter dem Eindruck, daß sie heute diesen Weltmächten als militärischer und politischer Kampfplatz dienen. Dadurch entsteht allmählich bei so gut wie allen asiatischen Kräften außerhalb Rotchinas ein „vages Gefühl der Solidarität”, das früher oder später allen drei großen Weltmächten noch große Sorgen bereiten wird.

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