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China — und Moskaus neue Linie

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Seit der im Februar auf dem XX. Kongreß der KPdSU in Szene gesetzten Zertrümmerung des Stalin-Kults nehmen die Spekulationen über die Hintergründe, den eigentlichen Zweck und die möglichen Folgen dieses sensationellen Schrittes kein Ende. Im Blickfeld dieser Betrachtungen ist der große östliche Partner der kommunistischen Achse ein wenig zu kurz gekommen. Man hat es mitunter als ein aussichtsreiches Zeichen wachsender Spannung zwischen Peking und Moskau kommentiert, daß sich das offizielle Organ der KPCh, die Pekinger „Volkszeitung“, erst volle sechs Wochen nach dem Moskauer Parteitag, und nur mit deutlicher Reserve, der Verurteilung Stalins angeschlossen hat und daß bei den chinesischen Kommunisten selbst dieser Tage noch die Bilder und die Bücher Stalins kaum weniger hoch' im Kurs zu stehen scheinen als vor dessen posthumer „Entlarvung“. Aber das Wesentliche in diesem Zusammenhang, die dein kommunistischen China eigene Problematik, die für seine Haltung zum Moskauer Fenstersturz bestimmend sein kann oder muß, hat im allgemeinen eine geringe Beachtung gefunden.

Die ausgesprochen kühle Aufnahme, die Moskaus „new look“ in der chinesischen Regierungszentrale gefunden hat, ist nicht schwer zu erklären. Da ist zunächst das für Mao Tse-tung bestimmt nicht angenehme Kapitel „Selbstbeweihräucherung“; die Parallele zwischen dem der Selbstkritik wenig zugänglichen Autokraten in Peking und seinem seinerzeitigen Gegenspieler im Kreml liegt gar zu nahe. Aber abgesehen davon hat Mao Anlaß genug, den „Antistalinismus“ in seinem Machtbereich nicht hochkommen zu lassen. In der Durchführung des kommunistischen Experiments hat die UdSSR gegenüber. China einen Vorsprung von einem Vierteljahrhundert. Und wenn man heute im Kreml der Meinung ist, daß eine gewisse Auflockerung ohne Gefahr für den Bestand des Systems möglich, ja unerläßlich geworden ist; so kann man sich an der Spitze der chinesisch-kommunistischen Machtpyramide — die Fassade einer sogenannten .kollektiven Führung ist hier. noch, durchsichtiger als in Rußland — den Luxus eines auch noch so. ge.r ringfügigen Liberalismus einfach noch nicht leisten. Mao Tse-tung 'muß vielmehr damit rechnen,, daß er zur Durchsetzung der Kardinalforderung der kommunistischen Glaubenslehre: der Industrialisierung, vielleicht noch s.chärfere Mittel und Methoden wird anwenden müssen als der „Stalinismus“.

Mao Tse-tung verdankt seinen Aufstieg weder der für kommunistische' Parolen besonders anfälligen Schichte der Halbintelligenz noch einer Revolte des städtischen oder ländlichen Proletariats. Er errang die Macht auf den Schultern der Bauernschaft, die vier Fünftel der Bevölkerung zählt und das konservativste Element in einem traditionell überaus konservativen Land darstellt. Unter diesen Bauern gewann er Sympathie und jene tatkräftige Unterstützung, die in der kritischen Epoche entscheidend war. Die Kurzsichtigkeit der amerikanischen Politik, die nur das unmittelbare Kriegsziel, die Niederwerfung Japans, im Auge hatte und die Regierung Tschiangkaischek geradezu zwtng, ein formelles feundnis mit den Kommunisten einzugehen, hat zu dieser Entwicklung sehr beigetragen; ausschlaggebend aber war die kluge Taktik Maos bei der Behandlung der Bauern, denen er greifbare Vorteile nicht nur versprach, sondern anfangs auch tätsächlich bot. Hierher gehörten in erster Linie die Herabsetzung der Pachtzinse und bestimmter Steuern sowie Landzuteilungen a(5f Kosten der Großgrundbesitzer; eine Bodenreform, die noch nicht ahnen ließ, wie bald selbst ein bescheidenes Bauerngut, vom Eigentümer und dessen Familie mit eigener Hand bewirtschaftet, als ein ebenso unrechtmäßiger, dem „Volke“ abgelisteter oder geraubter Besitz erklärt werden würde wie die Domäne eines zu den Nationalisten geflüchteten Größkapitalisten. Auch gaben die nun gut funktionierende Verwaltung, die anfängliche Unbestechlichkeit der kommunistischen Beamten und Funktionäre und die Disziplin der kommunistischen Streitkräfte den Bauern keinen Grund, dem korrupten und militärisch wie verwaltungstechnisch untüchtigen Kuomintang-Regime nachzuweinen. Seither ist freilich manches anders geworden, und die große Belastungsprobe des Rückhalts, den das Regime in den breiten Massen besitzt, steht noch aus.

Genau wie ihre russischen Genossen sehen auch die chinesischen Kommunisten den einzigen Weg zu landwirtschaftlicher Höchstproduktion in der Kollektivisierung aller landwirtschaftlichen Betriebe; eine Radikaloperation, mit der zugleich die letzten Inseln I der Freiheit, wie sie eine noch irgendwie unabhängige Bauernschaft bildet, ausgelöscht werden sollten. Immerhin, im ursprünglichen Programm war ein behutsamer und schrittweiser Ablauf der Operation vorgesehen; ihr Abschluß würde, wie Mao Tse-tung im Juli letzten Jahres bekanntgab, erst Ende 1960 erfolgen. Aber kaum zwei Monate später wurde dieser Termin auf das Frühjahr 1958 vorverlegt, und schon im Verlauf de heurigen Jahres soll, wie es in den im Jänner 1956 veröffentlichten Erläuterungen zum Landwirtschaftsplan 1956—1967 heißt, der Prozentsatz der kollektivisierten bäuerlichen Betrieb von 60 auf 85 gesteigert werden. Allerdings soll auch im kollektivisierten Sektor das Eigentumsrecht des einzelnen Teilhabers nominell noch bestehenbleiben, was theoretisch wohl heißen würde, daß ein Austritt aus dem Kollektiv noch möglich wäre; binnen zwei Jahren aber soll jeder Fluchtversuch abgeschnitten und der gesamte landwirtschaftliche Grundbesitz in das „Eigentum des Volkes“, das heißt in Kolchosen oder Sowchosen sowjetischer Prägung übergeführt sein. Ob die Durchführung dieses Planes in einem so beschleunigten Tempo unter der rund 500 Millionen Köpfe zählenden bäuerlichen Bevölkerung nicht eine Widerstandsbewegung auslösen wird, ist die Frage. Aber Peking steht eben in zweifacher Hinsicht unter zeitlichem Druck. Man befürchtet einerseits, daß der revolutionäre Elan selbst bei der Kerntruppe der kommunistischen Organisation unter dem Einfluß der tief verwurzelten Liebe des chinesischen Bauern zu seinem Grund und Boden allmählich schwinden könnte, solange auch nur ein geringer Teil der 110 Millionen chinesischen Bauernwirtschaften im Privateigentum verbleibt; anderseits will man so rasch wie nur möglich — und demselben Zweck dient auch die jetzt forcierte Kollektivisierung beziehungweise Verstaatlichung aller gewerblichen und kommerziellen Privatunternehmungen — die Industrialisierung auf einen Stand bringen, der die volle Ebenbürtigkeit Chinas gegenüber der UdSSR sicherstellt.

Freilich war die Beziehung Pekings zu Moskau immer schon anders als jene der osteuropäischen Gliedstaaten des Ostblocks. In China ist der Kommunismus ohne jedwede sowjetische Unterstützung, ja entgegen den Erwartungen Moskaus und im Widerspruch zu seinen taktischen Richtlinien zur Macht gekommen. Daher, und weil die Russen mit der chinesischen Mentalität genügend vertraut sind, hat der Kreml auch nie den Versuch unternommen, China in das Verhältnis eines Satelliten zu drängen. Er hat sich mit der Gewißheit begnügt, den „Imperialisten“ gegenüber stets auf eine gemeinsame Front mit Peking rechnen zu können. Und er hat sich diese Gewißheit auch etwas kosten lassen: durch Entsendung von Technikern und Instruktoren, durch (nicht sehr reichliche) Lieferungen von Maschinen und sonstigen Erzeugnissen, durch „Kulturaustausch“ und besonders durch Oeff-nung seiner Schulen aller Kategorien für chinesische Studenten. Und Peking hat all das entgegengenommen ohne das Gefühl einer besonderen Dankesverpflichtung und ohne sich in seiner durchaus selbständigen Außenpolitik im geringsten beirren zu lassen. Daher liegt leider vorläufig kein Grund vor, etwaige Hoffnungen auf die Befreiung der unterjochten Völker Europas auch auf China zu übertragen. Die neue Parole Moskaus, und was immer ihr als allerneueste folgen mag, wird an der engen Verbundenheit der beiden großen Machtzentren des Kommunismus ebenso wenig ändern wie an, dem Widerstand Pekings gegen jedes Bemühen, von welcher Seite immer, ihm seine Politik vorzuschreiben. Was allerdings nicht ausschließt, daß diese Politik unter dem Druck wachsender interner Schwierigkeiten eine allmähliche Wandlung erfahren könnte; am ehesten im Sinne einer Zurückstellung aggressiv-expansionistischer Pläne und einer größeren Bereitwilligkeit zu ehrlicher wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit dem Westen.

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