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Die Zeit wird kommen

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In letzter Zeit tauchten immer wieder Nachrichten über Aufstände in der chinesischen Riesenprovinz Sinkiang auf, die im Nordwesten an Rußland grenzt 'und 1,778.000 Quadratkilometer des Riesenreiches ausmacht. Früher rückständig und scheinbar von geringem Interesse, ist Sinkiang heute wegen seiner neuentdeckten Bodenschätze (Oel und Uran) und der Inangriffnahme seiner Kultivierung und Industrialisierung zum bedeutsamen Faktor in der Entwicklung des Fernen Ostens geworden. Sinkiang ist ein Land der Zukunft.

Was aber geht dort heute vor?

Das Tauziehen in Sinkiang ist seit mehr als einem Menschenalter im Gange. Rußland (und seit Bestehen der Sowjetunion auch Sowjetrußland) hat aus wirtschaftlichen Gründen stets das größte Interesse gezeigt, diese Provinz vom großen chinesischen Reiche abzutrennen, und hat es vor dem letzten Weltkrieg mit den bekannten kommunistischen Methoden hinreichend versucht. Aber auch England und Japan ließen nichts unversucht, ersteres von Indien her und das letztere von der Mandschurei aus, Einfluß zu gewinnen. Aber schließlich hat auch Nanking mehr getan, um Chinas Anrecht auf diese Provinz zu verteidigen. Seit Anfang der dreißiger Jahre befand sich Sinkiang fast ganz unter sowjetischer Oberherrschaft, als der Gouverneur Shen she tsä, „der Schlächter von Sinkiang“, ganz zu den Sowjets übergegangen war. Erst während des zweiten Weltkrieges gab es für China eine Gelegenheit, Sinkiang für kurze Zeit aus den Fängen Sowjetrußlands zu befreien. Als die Deutschen vor Moskau standen, wurde die ganze militärische Macht von den Russen aus Sinkiang zurückgezogen, und die Nationalchinesen wußten Shen she tsä für sich zu gewinnen, indem sie ihm einen Ministerposten in Chunking gaben. Sie schickten daraufhin chinesisches Militär nach Sinkiang und übernahmen ebenfalls die ganze Zivilverwaltung. Sinkiang war wieder chinesisch.

Als Mao Tse-tung 1949 den Sieg errungen und Rotchina errichtet hatte, entstand eine neue Lage für Sinkiang. Auch wurde es erst Anfang 1950 aus den Händen der Nationalchinesen endgültig für Mao erobert. Es erlangte für den wirtschaftlichen Auf- und Ausbau Chinas wieder die alte Bedeutung, und Rußland suchte das alte Interesse wieder aufleben zu lassen. Es bot sich an, Sinkiang gemeinsam mit China zu einem Verkehrs- und Industriezentrum Ostasiens zu machen. Mao brauchte dringend Auslandshilfe für den wirtschaftlichen Aufbau Chinas und schloß mit Moskau zum gemeinsamen Aufbau und Ausbau von Sinkiang Verträge ab. So entstanden Anfang der fünfziger Jahre die gemischten Sowjet-Chinesischen Gesellschaften, die sich anfangs anscheinend ganz in chinesischen Händen befanden — Rußland schien nur die Rolle eines guten Freundes und Helfers zu spielen.

China hat viel zur Befriedung Sinkiangs getan. Seiner Bevölkerung zuliebe hatte Mao im 14. Artikel der „Verfassung der Chinesischen Sowjet-Republik“ den Minderheiten im Reiche der Mitte zugestanden, daß das Recht der Selbstbestimmung und auch der Lostrennung und der Bildung nationaler und unabhängiger Staaten gewährleistet sei. Gleichzeitig wurden aber aus allen Provinzen Chinas große Menschenmengen nach Sinkiang geschickt, die angeblich große Gebiete im weiten Lande urbar machen und kultivieren sollten. Ich habe in den ersten drei Jahren nach der „Volksbefreiung“ die Kolonnen dieser Menschenmassen in Nordwestchina gesehen, die auf Lastautos nach Sinkiang transportiert wurden. Es handelte sich durchweg um „Politische“' geschlagene Reste fderi.rtaüianalen Armee, oft zu zweiefÄ!'anein?Hde¥gfeSSehdann aber auch um viele arme Ansiedler und Abenteuerlustige und nicht zuletzt um kommuni* stische Funktionäre und rotes Militär.

Wie groß die Neuansiedlungen in Sinkiang waren, geht daraus hervor, daß Sinkiang als Provinz von China, die bisher mit rund einer Million Bewohner angegeben war, bei der offiziellen Volkszählung 1953 mit der Zahl 3,730.000 angegeben wurde, und heuer beziffert man die Einwohnerzahl Sinkiangs mit 5 bis 6 Millionen (F. D. Sung). Das war ein starker Damm gegen die Autonomiebestrebungen des einheimischen Volksteiles. Aber die Ziele wurden nicht erreicht.

Moskau war in den ersten Jahren nach dem Abkommen mit Peking sehr emsig mit der Durchführung seines Versprechens in Sinkiang beschäftigt. Um Tihua und in anderen Teilen der Provinz, besonders auf der russischen Seite, entstanden Erzbergwerke, große Kraftwerke und andere Fabriken, wie in den chinesischen Zeitungen fortwährend zu lesen war, besonders in der Jen min je bao. Bei der gründlichen Durchkämmung der Gebirge und Steppen Sinkiangs erlebten die sowjetischen Wissenschaftler noch große Ueberraschungen. Außer den vorhandenen und bekannten Oelquellen entdeckten sie noch eine Reihe anderer, und vor allem entdeckten sie große Vorkommen von Uran und Thorium, Grundstoffe für die Atomindustrie. Diese Funde wollten die Chinesen den Russen nicht überlassen, und anderseits wollten die Russen die Ausbeutung dieser Stoffe nicht mit ihrem „großen“ Bruder teilen, sondern ganz für sich beanspruchen. So traten ernste Differenzen zutage um die Bodenschätze Sinkiangs, und das Ende ist noch nicht abzusehen. China hat plötzlich die so rasch vorangetriebene Lan—Sin-(Lanchow—Sinkiang—Alma—Ata-) Eisenbahn an der Grenze Sinkiangs in der Nähe- von Yümen sistiert und den Weiterbau durch Sinkiang vorläufig verweigert.

Die berichteten Aufstände in Sinkiang sind vielleicht ein Aufleben der nie ganz unterdrückten Autonomiebestrebungen, die sich gegen Rotchina und Sowjetrußland richten, oder sie sind ganz sowjetisch gesteuert, um sich so wieder leichter die Oberherrschaft in Sinkiang zu sichern. Für letzteres sprechen wohl einige spontane Reaktionen in Peking auf die angeblichen

Unruhen in Sinkiang. Dagegen spricht aber auch so manches aus den bisherigen Bestrebungen der mohammedanischen Bevölkerung dieser Provinz.

Ein mohammedanischer Partisanengeneral ,(Ho Tse Ming), der 1953 bis zu seiner endgültigen Liquidierung durch vier Monate in einem kommunistischen Gefängnis, zum Krüppel gefoltert, neben mir in der Zell lag — er hatte mit seiner SOOO Mann starken Truppe gegen die Rotchinesen im Tiän shan gekämpft —, sagte mir wiederholt: „Wir haben nur aus religiösen Gründen zu den Waffen gegriffen. Wir können den Kommunismus nicht in Ostasien zum Sieg kommen lassen.“ Und ich glaube, daß bei den gegenwärtig immer wieder gemeldeten Unruhen in Sinkiang (ebenso wie in Tibet) der religiöse Fanatismus der Hauptgrund ist, wenn man auch auf beiden Seiten, bei den Chinesen wie bei den Russen, die Autonomiebestrebungen aus politischen Gründen zu schüren versucht.

Differenzen zwischen Rußland und China sind vorhanden, aber es geht hier nicht um das Wohl und Wehe eines dritten Volksteiles, sondern um das Wohl und Wehe von Ost und West. Es geht nicht um Ideen, sondern vorerst um Oel und Uran. Rußland wehrt und schützt sich gegen den kontinentalen Vormarsch der asiatischen Rasse. Und China muß sich ausweiten zum Westen hin (oder zunächst nach Nordwesten), da das Meer ihm keine großen Ausweitungschancen mehr bietet. Es hat sich öfters gezeigt, daß China mehr asiatisch denkt als kommunistisch. Rußland wird von ihm in keiner Weise als asiatisch angesehen. Der Chinese braucht Hilfe vom Ausland, auch vom Europäer, aber er braucht als altes Kulturvolk keine Bevormundung. Er braucht technische Hilfe, um die Reichtümer seines Landes gebrauchen zu können, aber er braucht keinen Kommunismus.

Zahlenmäßig und völkerpolitisch ist China Rußland überlegen und Asien Europa. Die Zeit der großen Auseinandersetzung braucht noch nicht in den allernächsten Jahren zu kommen. China hat Zeit, aber sie wird nicht mehr verhindert werden können: die Auseinandersetzung zwischen China und Rußland wie die zwischen Asien und Europa.

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