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Tokio-Bai wird zugeschüttet

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DIE REISE VON WIEN NACH HANEDA, dem Flugplatz von Tokio, dauert neunzehn Stunden; im Flug der .Scandinavian Airlines System geht die Reise glatt vor sich, ist komfortabel und beruhigend wie eine Nacht im gepflegten Hotel. Das Problem beginnt in Haneda. Die Autobusfahrt vom Flugplatz in die Stadt ist ein Reiseabenteuer auf schlechten und verstopften Straßen, die sich nach einem der üblichen Regengüsse in wilde Ströme verwandeln. „Kränken Sie sich nicht“, sagt der Chauffeur, „die Autobahn wird schon gebaut.“

Entsteigt man dem Autobus, so beginnt das zweite Problem: das Gehen durch eine kompakte Masse Mensch. Wie eine Zwangsjacke scheinen sie sich um einen zu schließen und jede Fortbewegung zu einem Kampf zu machen. Aber dann wird der Kampf nicht so schwer. Mit der Elastizität der Japaner, unendlicher Bereitschaft, dem anderen den Weg zu lassen, und viel Heiterkeit geben sie auch dort noch den Weg frei, wo es unmöglich scheint. Und die Masse, die eine abweisende Mauer war, wird zur freundlichen, allerdings überaus engen Nachbarschaft.

MIT DER ANKUNFT IN TOKIO STOLPERT MAN sofort in zwei der schwierigsten Probleme dieser Stadt: Verkehr und Übervölkerung. Tokio rückt diesen Problemen zu Leibe. Eine Autobahn vom Flugplatz zum Zentrum der Stadt und eine Schnellbahn sollen gebaut werden. Als Achse eines großzügigen und weit in das Land vordringenden Systems von Autostraßen soll die Schnellbahn den Straßenverkehr in der Stadt und deren Umgebung etwas weniger abenteuerlich machen. Neulandgewinnung soll den Bevölkerungsdruck lockern, Tokio-Bai, die riesige Bucht zwischen Tokio und Yokohama, die größer ist als dreimal die Stadt und die drei Präfekturen als Anrainer hat, wird zugeschüttet werden. Tausende Quadratmeter Lebensraum für die Millionen Menschen, die in den nächsten Jahren erwartet werden.

Man spricht gerne und ausführlich von der Notwendigkeit, neue Straßen an Stelle der alten zu errichten, von der Notwendigkeit, sie zu erneuern. Im Grunde sind das jedoch akademische Gespräche um akademische Probleme. Und die alten Straßen genügen durchaus, wie das alte System der Straßenbezeichnung genügt. Man spricht nicht viel von der Notwendigkeit, neuen Lebensraum zu gewinnen. Aber man handelt und arbeitet.

ES IST NICHT SO SEHR DAS PROBLEM DER ÜBERVÖLKERUNG, das Tokio den Atem zu versperren droht, als das Problem des menschenwürdigen Raumes. Der Bevölkerungszuwachs, überall in Asien in unkontrolliertem Wuchern, ist unter Kontrolle gebracht. Die Zuwanderung vom Lande kann noch bewältigt werden; die Mauer wird dichter, und Schichten lagern übereinander. Auch Arbeit gibt es für die Kommenden.

Die Stadt frißt ihre Reisfelder an der Peripherie auf und verwächst mit den Nachbarstädten. Tokio und Yokohama sind heute schon Zwillingsstädte, und zwischen ihnen liegt kein Kilometer freien Raumes oder Felder. Man kann auf schlechten Straßen mit harten, leidgewohnten japanischen Autos ganz gut fahren. Man kann noch enger zusammenrücken als vorher, um den Ankommenden Platz zu machen. Aber auch das geht nur bis zu einem gewissen Grad, und man weiß, daß noch Millionen kommen werden. Man will für sich und für die Kommenden nicht nur den Platz zum Schlafen und den Platz bei der Arbeit haben, sondern auch Raum zum Leben. So sagte es Professor Ryotaro A z u m a, Gouverneur von Tokio, anläßlich seines kürzlichen Besuches in Wien.

„ES IST EIN RIESENPROIEKT, die Landgewinnung aus Tokio-Bai. Es ist ein Projekt, das schon bewältigt ist, weil es bewältigt werden muß. Wir müssen einfach den Boden haben, um auf ihm Häuser zu bauen und dort zu leben, den Boden, der heute noch vom öligen Wasser des Hafens überflutet ist. Tokio-Bai ist unser wichtigstes Projekt.“

Die drei Änrainer-Präfekturen von Tokio-Bai werden eine Korporation bilden. Tokio und Yokohama sind mächtige, finanzkräftige Städte und werden tief in ihre Säckel greifen. Die ganze Zehnmillionenhauptstadt und größte Hafenstadt Japans sammelt um die Riesenbucht in einen Stadtteil der größten Stadt der Welt zu verwandeln. Schade um die Bucht, in der sich die

Romantik des Welthafens im öligen Wasser spiegelt. Aber herrlich wird dieser Stadtteil sein. Der Gouverneur zeigt ihn am Plan der Stadt. Weit wird er hinausreichen als Landzunge in den Stillen Ozean.

DER MANN. DER DIESE AUFGABE BEWÄLTIGEN SOLL, ist Mediziner. Im dunklen Anzug sitzt er dem Besucher gegenüber, sehr ernst, vielleicht mit einem leichten Anflug etwas ironischen Humors. Mit einer Ärztetasche in der Hand wäre er das Modell eines vertrauenerweckenden ■Hausarztes der Vorkriegszeit; er verkörpert also keinesfalls den Typ eines Großverwalters und „Supermanagers“. Eigentlich ist es sehr symptomatisch, daß eine Stadt wie Tokio nicht einen Politiker oder Manager zum Gouverneur wählte, sondern einen Wissenschaftler und Sportler. Professor Ryotaro A z u m a war vor seiner Wahl Ordinarius für Pharmakologie und Physiologie an der Kaiserlichen Universität in Tokio. Er hatte in der Vor« kriegszeit am National Institut for Medical Research in Hampstead (London) gearbeitet und kam als Retter in schwerster Not in die Verwaltung und in die Politik. 1946 bis 1951, während die Zahl der Einwohner von Tokio sich verdoppelte und bereits zuwenig Essen und Wohnraum für die ursprüngliche Zahl vorhanden war, war Ryotaro A z u m a bereit, die Leitung der Abteilung für Medizin und Hygiene im Ministerium für öffentliche Wohlfahrt zu übernehmen; in jenen Regierungen, die das Erbe von Hiroshima und Nagasaki zu tragen hatten...

Wie viele japanische Wissenschaftler, wirkt auch der Gouverneur von Tokio ziemlich englisch. Englisch ist Professor A z u m a auch darin, daß er neben der Wissenschaft auch Sport betreibt. Bevor er Gouverneur von Tokio wurde, war er Präsident des Japanischen Olympischen Komitees, und als Tokio den Auftrag erhielt, die Olympischen Spiele 1964 durchzuführen, wurde er Mitglied des Organisationskomitees. In dieser Funktion flog er zur Konferenz des Olympischen Komitees nach Moskau — über Wien...

„1959 WAR ER BEI DER WAHL ZUM GOUVERNEUR ziemlich knapp durchgekommen“, erzählt ein japanischer Dirigent in Wien. „Die (konservative) Liberaldemokratische Partei hätte keinen anderen durchgebracht als ihn. Denn die Stadt ist eher sozialistisch als liberal. Würde heuer eine Wahl abgehalten werden, so würden die Liberaldemokraten in Tokio mit größerer Sicherheit und größerem Vorsprung gewinnen; nicht wegen der Partei, sondern wegen Ryotaro Azu-ma.“

Im Gespräch mit dem Gouverneur entsteht das Bild von Tokio, der Stadt, in der die Intensität des Lebens stärker ist als auf jedem anderen Fleck der Erde, in der die Probleme wie die Pflastersteine in der Erde zu stecken scheinen. Und immer wieder taucht die Frage auf: Wie können auf diesen wenigen Quadratkilometern — zweitausend sind es im ganzen — so viele Menschen zusammen leben? Gut zusammenleben, mit überraschender Heiterkeit und in sichtlich heiterer Nachbarschaft.

Im März dieses Jahres überschritt die Bevölkerung Tokios die Zehnmillionengrenze. Nun hat die Stadt an Bevölkerungszahl endgültig alle anderen Städte der Erde überrundet. Professor Azuma sagt, daß er 1962 mit einem weiteren Zuwachs von mindestens 200.000 Menschen rechnen muß. Zwei Drittel dieser Neuankömmlinge werden Zuwanderer vom Land sein und nur ein Drittel natürlicher Geburtenüberschuß. Die Stadtplaner erwarten, daß 1975 in Tokio mehr als vierzehn Millionen Menschen leben werden. Dann wird ein großer Teil der Tokio-Bai schon zugeschüttet sein.

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